RW 38
Zur Dialektik von kontinuierlicher und diskreter Materie
Briefwechsel zur Arbeit am RW 38 „Die Krise der bürgerlichen Wissenschaft und Kultur“
Zwischen zwei Mitarbeitern des Buchs „Die Krise der bürgerlichen Wissenschaft und Kultur“, an dem aktuell gearbeitet wird, entspann sich eine Auseinandersetzung über das Verständnis von kontinuierlicher und diskreter Materie im Zusammenhang mit der Analyse der Krise der Physik. Hier ein Auszug aus einem Brief dazu:
»Kontinuierliche/diskrete Materie.
Zunächst finde ich es genial, die Frage erkenntnistheoretisch aufzuwerfen, wie es Stefan Engel tut. Ich war darüber verblüfft und brauchte etwas Zeit zur Verdauung. Dies brauchte ich deshalb, weil ich bisher die Begriffe kontinuierlich und diskret als etwas physikalisch Konkretes und sich gegenseitig Ausschließendes verstand, in dem Sinne: „Materie ist entweder kontinuierlich oder diskret. Dazwischen gibt es Übergänge vom einen Zustand in den anderen, aber es gibt keine Zwischenzustände“. Ich hatte in den Diskussionen mit dir immer wieder den Eindruck erhalten, dass du die kontinuierliche Materie durchaus mit Strukturen behaftet betrachtest und immer wieder von „tieferen Strukturebenen“ gesprochen hast. Es war ein Fehler von mir, das nicht richtig für mich zu klären. Ich erkenne mein oben geschildertes Verständnis aber heute als starr und metaphysisch.
Ich habe zum Schreiben dieses Briefes nochmal bei Willi Dickhut nachgelesen und festgestellt, dass er die kontinuierliche Materie ebenfalls als einen erkenntnistheoretischen Begriff behandelt hat:
„Die Materie, obwohl in der universellen Einheit absolut, tritt in ihren verschiedenen Formen, wie wir sie kennen, relativ auf. Gleichförmigkeit ist unseren Sinnen verschlossen. Woran sollten wir sie auch erkennen? Es gibt nichts, wo wir anknüpfen können, nichts zum Vergleichen. Schon verschwommene Kontraste sind nicht oder nur schwer zu erkennen. Ohne erkennbare Gestalt, ohne feststellbare Grenzen, ohne allen wahrnehmbaren Wechsel, nur Gleichförmigkeit, das ist die Allmaterie, die Ursubstanz aller Dinge – kontinuierliche Materie.“ ( W. Dickhut, Materialistische Dialektik, S. 279/280 – Unterstreichung Verf.)
Willi Dickhut behandelt die Grenze zwischen diskreter Materie und kontinuierlicher Materie (=gleichförmiger Materie) nicht als etwas objektiv Physikalisches, wie ich es gemacht habe, sondern als Grenze der Wahrnehmbarkeit. Insofern hatte er diesen Gedanken bereits, noch bevor ihn Stefan Engel in das Kapitel einbrachte.
Man könnte also unseren Satz über Zufall und Notwendigkeit sinngemäß hier übertragen und sagen:
„Die Dialektik von diskreter und kontinuierlicher Materie wird es immer geben. Was uns aber als diskret oder kontinuierlich erscheint, hängt vom Stand unserer Erforschung der Natur ab.“
Nachdem ich mir dieses Verständnis erarbeitet hatte, stellte ich mir die Frage, ob die Begriffe diskret bzw. kontinuierlich dann eigentlich richtig gewählt sind. Es sind ja physikalische Begriffe und keine erkenntnistheoretischen Begriffe. Warum sagen wir nicht „bekannte bzw. unbekannte Materie“ oder „dunkle Materie“ anstelle kontinuierlicher Materie.
Ich sehe da inzwischen kein Problem mehr. Willi Dickhut formuliert es ja völlig klar und verwendet auch die Begriffe diskret bzw. gleichförmig.
Ich stimme also der jetzigen Fassung des Kapitels in dieser Frage vollständig zu und halte es für eine deutliche Verbesserung. ...«
Fußnote:
Kontinuierlich: ununterbrochen, gleichförmig, unendlich, ewig, ohne Anfang und ohne Ende
Diskret: begrenzt in Zeit und Raum, klar unterscheidbar von seiner Umgebung