RW 39
Zur Dialektik in Beethovens Musik
Briefwechsel zur Auseinandersetzung um die Dialektik in Beethovens Kompositionen
Christoph G., Redaktion REVOLUTIONÄRER WEG
06.01.2025
Lieber Götz,
Wir haben deine Kritik am Interview von Stefan Engel zum RW 39 vom 5.11.24 erhalten und ich möchte als einer der Mitarbeiter am »Revolutionärer Weg 39« gerne darauf antworten:
Worin liegt der qualitative Sprung in Beethovens musikalischer Dialektik?
»Kunst ist dialektisch, sonst ist sie keine Kunst.« So der britische marxistisch-leninistische Wissenschaftler George Thomson.1 Hauptmerkmal dafür ist die dialektische Einheit von Inhalt und Form. Das beinhaltet auch die Vielfalt der künstlerischen Formen, in denen sich die Vielfalt des Inhaltes widerspiegelt, ihre inneren Widersprüchlichkeiten, ihre Entwicklung und Verwandlung.
Auch Musik ist darum umso kunstvoller, je mehr dialektische Elemente sie enthält – bewusst oder unbewusst. So ist die Polyphonie2 der Renaissance-Musik mit ihrem Höhepunkt der Fugenkomposition von Johann Sebastian Bach in hohem Maße dialektisch. Kunst kann aber aus dialektisch-materialistischer Sicht nur das Lebensgefühl der Künstler in ihrer Zeit widerspiegeln. Das Lebensgefühl von Johann Sebastian Bach (1685-1750) war von einer tiefen protestantischen Frömmigkeit im fest gefügten statischen Weltbild des Barockzeitalters auf dem Höhepunkt der feudalen Macht geprägt. Darum waren die dialektischen Formen bei Bach trotz allem melodischen Reichtum, der gewagtesten Harmonien und der kunstvollsten Polyphonie letztlich immer begrenzt. Sie mussten »immer zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehren, als wären ihnen feste Grenzen gesetzt.«3
Seine musikalischen Nachfolger in Mitteleuropa wie insbesondere Joseph Haydn (1732-1809) und Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) entwickelten noch im Schoß des Feudalismus, aber schon geprägt von den bürgerlich-demokratischen Idealen der Freimaurer die neue dialektische Form des Sonatenhauptsatzes mit musikalischer These, Antithese und Synthese – also dem musikalischen Element einer ständigen Höherentwicklung durch die Entfaltung der Widersprüche. Aber auch Haydn und Mozart waren durch die Lebensweise ihrer Abhängigkeit von feudalen Fürsten und der vorrevolutionären Zeit geprägt und gebremst.
Sowohl bei Bach, als auch bei Haydn und Mozart bestand also ein Widerspruch zwischen dialektischen Formen und starr-metaphysischen feudal geprägten Inhalten.
Diesen Knoten löste erst Ludwig van Beethoven (1770-1827). Er erlebte voller Anteilnahme und Enthusiasmus die bürgerlich-demokratische französische Revolution (1789 ff.) und schöpfte aus diesem Lebensgefühl einer revolutionären Umbruchperiode seine weltanschauliche, politische und musikalische Lebendigkeit und Kraft. Auch war Beethoven der erste freischaffende sozusagen bürgerliche Komponist. Auf diesem materiellen Hintergrund wurde der Inhalt der revolutionären Epoche mit dem von feudalen Fesseln befreiten Lebensgefühl Beethovens und seiner politischen Parteinahme für die Revolution identisch mit einer allseitigen revolutionären Entfaltung und Befreiung auch der musikalischen Formen – bei dialektischer Negation alles bisher schon Wertvollen.
Nur auf diesem Hindergrund der »äußeren« Dialektik von revolutionärer Lebensweise und revolutionärer Musik konnte sich auch auch die innere Dialektik der Musiksprache Beethovens voll entfalten - geprägt von der allseitigen Anwendung der dialektischen Methode: als wesentliches Merkmal Kampf und Einheit der Gegensätze (so in der Höherentwicklung und Vollendung der dialektischen Form der Sonate); der allseitige und echteste Ausdruck menschlicher Gefühle, die Einheit von Analyse und Synthese...
Bei allem musikalischen Genie war eine entscheidende Voraussetzung die Arbeitsweise in Beethovens Kompositionsmethode, die mehr oder weniger bewusst, gründlich und diszipliniert von Elementen der dialektischen Methode geprägt war.
Auf diesem Hintergrund kritisierst Du zwar einerseits die Aussage von Stefan Engel in seinem RF-Interview, dass Beethoven »die dialektische Methode in der Musik eingeführt« hätte. Aber Du verkennst mit Deiner Kritik die entscheidende Bedeutung der zweiten Hälfte des Satzes von Stefan Engel, dass Beethoven »eine ganz neue Epoche in der Musik hervorgebracht hat«: nämlich durch den qualitativen Sprung in Beethovens musikalischer Dialektik als neuartige Einheit von Inhalt und Form.
Herzliche Grüße,
Christoph
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1 Vom Wesen des Menschen, Wissenschaft und Kunst in der Entwicklung der Gesellschaft, Seite 124
2 Form der Mehrstimmigkeit, bei der die einzelnen Stimmen im Wesentlichen gleichwertig sind
3 Ebd. S. 131