Stefan Engel
Zum Gedenken an Willi Dickhut
Gedenkrede von Stefan Engel, Parteivorsitzender der MLPD, am 31. Mai 1992 auf der Gedenkfeier zum Tode von Willi Dickhut in Solingen
Liebe Luise,
liebe Verwandte und Bekannte, liebe Freunde und Genossen!
Willi Dickhut ist am 8. Mai um 5 Uhr 30 früh verstorben. Gemäß seinem ausdrücklichen Wunsch wird es keine Trauerfeierlichkeiten geben. Zur Beisetzung seiner Urne in der Ostsee werden ihn nur einige wenige begleiten können.
Wir sind heute zum gemeinsamen Andenken an Willi Dickhut zusammengekommen.
Er fehlt in unseren Reihen
Es hat uns tief berührt, daß Willi nun in unseren Reihen fehlen soll. Er war für uns nicht nur ein aufrechter Arbeiterpolitiker und ein treuer Mitkämpfer, er war uns vor allem der treffsichere Vordenker und kritische Ratgeber.
Ich sehe ihn noch gut vor mir hinter seinem Tisch im beengten Schlaf- und Arbeitszimmer, von wo aus er immer zuhörte, nachfragte, nachdachte oder überzeugend seine immer neuen und kritischen Gedanken darlegte.
Seine Überzeugungskraft rührte nicht nur aus der Klarheit seiner Ausführungen. Er besaß auch einen scharfen Witz, einen trockenen Humor, tiefes Einfühlungsvermögen und menschliche Wärme.
Ein durch und durch politischer Mensch
Trifft uns der Tod Willis menschlich schwer genug, so wiegt sein Verlust politisch noch viel schwerer. Bei Willi ließ sich das ohnehin nicht trennen. Er war ein durch und durch bewußt politischer Mensch. Es gab praktisch keine Frage in seinem Leben, die er nicht konsequent vom Standpunkt seiner Weltanschauung anpackte.
Er war in seinem Denken, Fühlen und Handeln vollständig mit dem großen Befreiungskampf der Arbeiterklasse, der Ausgebeuteten und Unterdrückten dieser Welt verbunden.
Willis hohe Moral und Aufrichtigkeit haben ihm nicht nur bei seinen Freunden und Gleichgesinnten große Achtung eingebracht.
Sein Tod trifft uns nicht unvorbereitet
Obwohl Willis Tod eine empfindliche Lücke reißt, trifft er uns keineswegs unvorbereitet. Seit Willi Dickhut 1969 sich am Aufbau einer marxistisch-leninistischen Partei neuen Typs beteiligte, hatte er uns auf den Tag vorbereitet, an dem er nicht mehr persönlich an der Parteiarbeit teilnehmen würde. Zu oft hatten revolutionäre Arbeiterparteien in der Geschichte tiefen Schaden erleiden müssen, nachdem sie plötzlich ihre Führer verloren hatten. Willi Dickhut kandidierte deshalb nicht für die Parteileitung, sondern konzentrierte von Anfang an seine ganze Kraft auf diejenigen Seiten der Parteiarbeit, deren Bedeutung über die Tagespolitik hinausgingen und die ihre langfristige Wirkung erzielen mußten.
Das war zum einen die persönliche Ausarbeitung der theoretischen Grundlagen der MLPD. Zum anderen erzog er mit einer unendlichen Geduld viele Mitarbeiter und Genossen der jüngeren Generation.
Er achtete jeden Genossen und Kollegen
Willi hatte ein tiefes Vertrauen in uns junge Genossen. Er verschloß sich nie einer Beratung, machte immer wieder Vorschläge und gab wichtige Impulse für die Parteiarbeit. Seine selbstlose Hilfe und vor allem sein ständiger kritischer Rat bis zum letzten Tag seines Lebens erleichterten es uns, mit den Aufgaben zu wachsen, aus Fehlern zu lernen und Stück für Stück das Handwerk der revolutionären Arbeit zu erlernen.
Willi nahm einem nie die Verantwortung ab, förderte die eigenständige Entscheidung, auch wenn er manchmal anderer Meinung war. Nur bei grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten ließ er nicht locker bis zu einer einvernehmlichen Klärung. Ich habe in den 15 Jahren, in denen ich eng mit Willi zusammenarbeiten konnte, niemals verspürt, daß er seine theoretische Überlegenheit und seine große praktische Lebenserfahrung auch nur im Geringsten ins Spiel brachte. Er stellte sich immer auf die gleiche Stufe wie andere Genossen, akzeptierte und förderte ihre Individualität und achtete jeden Genossen und Kollegen.
Der Tod war sein Freund
Willi ist tot. Und es fällt mir schwer, mir sein nüchternes Verhältnis zum Sterben zu eigen zu machen. Willi sprach immer vom Tod als seinem Freund, der ihn über 88 Jahre verschont hatte, obwohl er viele Male hätte zuschlagen können. Willi erzählte zum Beispiel von dem brutalen Verhör durch die Gestapo in Düsseldorf im Jahre 1934: »Alle paar Tage Vernehmung verbunden mit Schlägen und Fußtritten; ein paar Monate lang. Immer das gleiche Theater: Aussage verweigert - Mißhandlung - Gegenüberstellung von Genossen, die Aussagen machten, die mich belasteten. Um diese Aussagen zu zerschlagen, schrieb ich eine Seite mit dem Schlußsatz: >Über ehemalige Mitglieder oder Personen, die damit im Zusammenhang stehen, verweigere ich jede Aussage.< Mir gegenüber am Verhandlungstisch saß der Leiter der Gestapo, Sturmbannführer der SS, Lauhus. Jetzt sah er hoch, die vier Sterne auf seinem Kragenspiegel auf der schwarzen Uniform brannten mir in den Augen. >Das ist mein letztes Wort, und wenn Sie mich totschlagen.< Er sah mir tief in die Augen, Sekunde auf Sekunde. Er muß wohl in meinen Augen gesehen haben, daß es mir bitter ernst war. >Schließen wir ab!< sagte er und schlug den Aktendeckel zu.«
Daß Willi furchtlos den Tod in Kauf genommen hatte, rettete sein Leben.
Der Tod blieb sein Freund, als er in den letzten Wochen alle Kraft in die Erstellung des Buches »Sozialismus am Ende?« steckte, und der ihn so lange verschonte, bis er mit allem, was er sich vorgenommen hatte, fertig war.
Am Mittwoch vor seinem Tod trafen wir uns ein letztes Mal.
Wir besprachen noch einige wichtige Dinge. Am Schluß des Gespräches sagte Willi:
»Das war unser letztes Gespräch. Ich glaube, ich habe alles getan, was ich für die Partei tun konnte. Jetzt kann mich mein Freund, der Tod, abholen.«
Das Unauslöschbare
Es ist unser Recht, wenn in uns tiefe Trauer und ein Gefühl der Leere aufkommt. Aber können wir auf diese Weise den Verlust ganz begreifen, den wir wettmachen müssen?
Leben und Tod eines einzelnen sind immer nur zwei zeitweilige Formen eines ewigen Weltenlebens. Werden und Vergehen sind nichts Widernatürliches, sondern die notwendigen Voraussetzungen des Gesamtzusammenhangs der materiellen Welt. Verstirbt ein Mensch, so geht das Leben der Menschheit weiter. Der einzelne hinterläßt der Gesamtheit Unauslöschbares und existiert auf diese Weise fort. Das Unvergängliche des stets wachsenden Heeres der Toten ist somit Grundlage jedes menschlichen Lebens der Zukunft.
Willi Dickhut hinterläßt der internationalen marxistisch-leninistischen und Arbeiterbewegung Unschätzbares.
Der wichtigste Tag seines Lebens
Als Willi gerade vier Jahre alt war, verunglückte sein Vater, ein Fuhrunternehmer, tödlich. Willi mußte früh also auf eigenen Füßen stehen. Nach der Volksschule begann er 1918 eine dreijährige Lehre als Schlosser und Dreher.
Als 16jähriger Lehrling beteiligte Willi sich am Generalstreik gegen den Kapp-Putsch. »Noch mehr aus Neugierde als aus Klassenbewußtsein«, berichtete er später. Aber im Januar 1921 organisierte Willi sich bewußt im damaligen »Deutschen Metallarbeiter-Verband«.
Als in Solingen die Arbeiter Anfang 1924 gegen die geplante Verlängerung der Wochenarbeitszeit von 48 Stunden auf 57 ½ Stunden in einen wochenlangen Streik traten, beteiligte sich Willi aktiv an den Kampfmaßnahmen und wurde anschließend fristlos entlassen. Diese Erfahrungen führten ihm vor Augen, daß es für den Arbeiter aus dem System kapitalistischer Ausbeutung und Unterdrückung letzten Endes nur den revolutionären Ausweg geben konnte.
Am 7. März 1926 wurde Willi Dickhut Mitglied der KPD. Dieser Tag war, wie Willi selber sagte, zum wichtigsten Tag seines Lebens geworden.
»Nicht mit leeren Händen«
Den Entschluß hatte er schon früher gefaßt, im Herbst 1925. Willi fragte sich aber: »Sollte ich mit leeren Händen kommen?« Er faßte den Entschluß, einen Kollegen für die KPD zu gewinnen und gemeinsam einzutreten. Und so war es dann auch.
»Nicht mit leeren Händen«, sondern positiv beitragen - unter diesem Motto stand auch Willis jahrzehntelanges Wirken in der Gewerkschaft. Im Frühjahr 1991, 70 Jahre nach seinem Eintritt in den Deutschen Metallarbeiter-Verband, ehrte ihn deshalb die IG Metall zu Recht: war er doch nicht nur eines ihrer ältesten, sondern auch eines ihrer erfolgreichsten Mitglieder.
Willi war nicht nur von 1926 bis 1930 Mitglied der Leitung der Schlosserbranche gewesen, sondern hatte nach 1945 aktiv mitgewirkt an der Neubildung der Gewerkschaften in Solingen. 1957 wurde Willi in die Vertreterversammlung der IG Metall Solingen gewählt und vertrat die IG Metall im Ortsausschuß des DGB. Er organisierte persönlich den Wohnbezirk Ohligs/Aufderhöh, dessen Leitung er zeitweilig übernahm.
Willi entfaltete in diesen Funktionen eine Fülle von Aktivitäten. Mitgliederwerbekampagnen und Schulungsarbeit verbanden sich mit einer intensiven und beispielhaften Kleinarbeit.
Willi Dickhut - ein Arbeiterpolitiker
Willi hat sich immer für eine positive Gewerkschaftsarbeit eingesetzt. In diesem Sinne ging er als Kreissekretär der KPD 1956 in Hagen mit der Einstellung mancher Genossen und Parteigruppen hart ins Gericht:
»Viele Genossen schimpfen auf die rechten Gewerkschaftsführer, weil sie Gewerkschaftsbeschlüsse nicht durchführen, tun aber selbst nichts, um diese Beschlüsse durchzusetzen ... Sie schüren selbst noch gewerkschaftsfeindliche Tendenzen im Betrieb. Wir müssen solche Tendenzen aufs schärfste bekämpfen und eine positive Gewerkschaftsarbeit leisten.«
Auch in der Kommunalpolitik in Solingen hat sich Willi Dickhut verdient gemacht. Direkt nach Kriegsende übernahm er als Erster Kreissekretär der KPD den Vorsitz der Stadtratsfraktion.
Gerade in den Existenzfragen des Wiederaufbaus, in der Wohnungsfrage oder der Entnazifizierung, gelang unter maßgeblicher Initiative Willi Dickhuts eine im Nachkriegsdeutschland wohl einmalige Zusammenarbeit zwischen den Arbeiterparteien SPD und KPD. Bundesweite Wellen schlug diese überparteiliche Zusammenarbeit, als infolgedessen ein KPD-Genosse zum Bürgermeister gewählt worden war.
Willis Kommunalpolitik wie auch seine positive Gewerkschaftsarbeit fand jedoch immer auf der Grundlage des Kampfes statt. Klassenzusammenarbeitspolitik verabscheute er ebenso wie faule Kompromisse. Durch Willis Leben zog sich wie ein roter Faden sein unermüdlicher und unerschrockener Kampfgeist.
Ein unbeugsamer Kämpfer
Als Willi im März 1933 verhaftet wurde, da begann er sofort im Polizeigefängnis von Solingen eine politische Kampfaktion der politischen Häftlinge gegen die miserablen Haftbedingungen zu organisieren.
Als ich im letzten Jahr mit ihm zusammen einen DEFA-Film über den KPD-Funktionär Ernst Schneller anschaute, brachte er seine tiefe Enttäuschung über diese Darstellung des antifaschistischen Widerstandes im KZ zum Ausdruck:
»Warum wird sich so lange über die Schikanen, Folter und Brutalität der KZ-Schergen ausgelassen, während die entscheidende Arbeit der Kommunisten im KZ keine Erwähnung findet?« Willi berichtete von seinen eigenen Erfahrungen im KZ Börgermoor:
»Das Wichtigste war die systematische Arbeit zur Zersetzung der SS-Wachmannschaften. Das war nur durch eine hohe Kampfmoral und großes taktisches Geschick zu erreichen. Die Schläger der SS-Mannschaften mußten unter ihren eigenen Leuten isoliert und die anderen in ihrer faschistischen Überzeugung erschüttert werden. Es gelang, die Wachmannschaften im KZ Börgermoor so zu zersetzen, daß sie eines Tages von Polizeieinheiten abgelöst werden mußten.« Willi fügte verschmitzt hinzu: »Und die waren noch schneller zersetzt. Nach vier Wochen wurden auch diese wieder abgelöst.«
»Nichts kann einen Revolutionär aufhalten ... «
Je schwieriger die Kampfbedingungen, desto bewußter, zielklarer und treffsicherer arbeitete Willi. Er lebte nach der Devise: »Nichts kann einen wirklichen Revolutionär aufhalten, es sei denn, er hält sich selber auf.«
In diesem Sinne leitete Willi die illegale Arbeit in Solingen bis Kriegsende. Auf über 1000 Schreibmaschinenseiten verfaßte er unter strengster Illegalität Informations- und Schulungsmaterial für den proletarischen Widerstand gegen Faschismus und Krieg und ließ es abschnittsweise unter den KPD-Genossen kursieren. Über das von Willi entwickelte »Schießscheibensystem« verbreiteten sich die antifaschistischen Argumente unter den werktätigen Schichten der Solinger Bevölkerung.
Nur Gefängnis und Verhaftung konnten diese Arbeit unterbrechen. Kaum hatte Willi sich im November 1944 durch Flucht aus dem Gerichtsgefängnis Solingen dem drohenden Todesurteil entziehen können, übernahm er sofort wieder die Führung im Solinger Widerstand gegen die Faschisten.
Schmerzliche Erfahrungen mit schmutzigen Diffamierungen
Es gehörte wohl zu Willis schmerzlichsten Erfahrungen, daß er sich Anfang 1976 einer der schäbigsten und schmutzigsten Diffamierungskampagnen, die man sich als Revolutionär vorstellen kann, gegenübersah. Der damalige Chefideologe der DKP, Robert Steigerwald, bezeichnete Willi Dickhut öffentlich als »Feigling« und »Verräter«, der »seine Koffer gepackt« und »sich aus dem Staub gemacht« habe. Obwohl sämtliche Anschuldigungen völlig aus der Luft gegriffen und restlos von Willi in einer Dokumentation unter dem Titel »Was ist die DKP-Führung?« widerlegt worden waren, hat es kein führendes DKP-Mitglied bisher für nötig erachtet, die Verleumdung zurückzunehmen. Lediglich der DKP-Funktionär Fülberth erklärte in einem Brief zwei Tage vor Willis Tod die Anschuldigungen für restlos entkräftet. Er schreibt: Es sei »an der Zeit, diese in der Regel ohnehin durchsichtigen Zweckbehauptungen als das zu kennzeichnen, was sie immer waren: als Mittel der Selbstimmunisierung durch Stigmatisierung anderer«.
Der eigentliche Hintergrund für diese Haßtiraden aus der DKP-Spitze war ideologisch-politischer Natur.
Willi Dickhut führte in der Nachkriegszeit immer wieder kritische Auseinandersetzungen über sektiererische oder auch opportunistische Fehler des Parteivorstandes der KPD. Vor allem wegen dem verbreiteten Intrigantentum und der willkürlichen Kaderbehandlung in der KPD/SED war er mit den jeweils Verantwortlichen oft zusammengeprallt.
Später schloß sich Willi Dickhut der Kritik der KP Chinas an der revisionistischen Entwicklung der KPdSU seit dem XX. Parteitag 1956 an. Von der Parteileitung aufgefordert: »Bestell das Material aus China ab, und du kannst in der Partei bleiben«, lehnte Willi natürlich ab. Daraufhin wurden Willi und Luise Dickhut 1966 aus der KPD nach 40jähriger Mitgliedschaft ausgeschlossen.
Als Willi klargeworden war, daß die KPD nicht mehr zu retten war, widmete er fortan sein ganzes weiteres Leben dem Aufbau einer marxistisch-leninistischen Partei neuen Typs.
Bittere Lehre in der Sowjetunion
Die Voraussetzungen für diesen ideologischen Kampf gegen den modernen Revisionismus der DKP hatte sich Willi Dickhut auch durch seine unmittelbaren persönlichen Erfahrungen erworben.
Beseelt von der Vorstellung, dem ersten sozialistischen Land der Welt seine besten Fähigkeiten zur Verfügung zu stellen und dabei den Aufbau des Sozialismus aus der Nähe kennenzulernen, nahm Willi 1928 den Auftrag an, in der Sowjetunion eine Produktion von Haarschneidemaschinen einzurichten. Entgegen den hohen Erwartungen sollte der Aufenthalt in der Sowjetunion aber eine bittere Lehre werden.
Die unter Leitung Willi Dickhuts stehende Spezialistengruppe fand in Slatoust weder geeignete Räume noch die zur Errichtung der Haarschneidemaschinenproduktion erforderlichen Werkzeugmaschinen, Hilfsmittel usw. vor.
Willi erinnerte sich: »Es war, als wenn man durch zähen Schlamm watet.«
Die sowjetischen Direktoren übten regelrechte Sabotage aus und suchten sich durch Intrigen aus der Verantwortung zu ziehen. Nun, von der alten Bürokratie, auf deren Kenntnisse die junge Sowjetunion leider noch nicht verzichten konnte, war nicht viel anderes zu erwarten. Aber daß sie sich dabei sogar auf Parteimitglieder stützen konnte wie den Techniker Taraschtschenko, der unfähig war, aber Karriere machen wollte, oder den stellvertretenden Direktor Gussew, dem als ehemaligem Arbeiter die Machtstellung zu Kopfe gestiegen war - das enttäuschte Willi maßlos.
Willi konnte damals nicht ahnen, daß der Kampf gegen die neue Bürokratie mit dem Parteibuch in der Tasche auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 in einer Niederlage enden würde. Mit Chruschtschow kam in der Sowjetunion gerade diese Sorte von Pseudokommunisten an die Macht. Als Willi die theoretische Erkenntnis von der »Restauration des Kapitalismus in der Sowjetunion« 1971/1972 ausarbeitete, machten sich die Theoretiker der DKP öffentlich lustig über das sogenannte »Märchen von der Restauration des Kapitalismus«. Gleichzeitig wichen sie feige davor zurück, sich auch nur mit einer einzigen Zeile seiner wissenschaftlichen Begründung auseinanderzusetzen. Und diese Begründung besagt, daß der Sozialismus untergehen muß, wenn die Pseudokommunisten, die in Wahrheit egoistische Ziele verfolgen, im Partei-, Staats- und Wirtschaftsapparat das Übergewicht und schließlich die Macht erringen. Die Analyse Willi Dickhuts wurde seit 1989 in dem dramatischen Zusammenbruch der Sowjetunion und des RGW bestätigt.
Um erneut eine revolutionäre Arbeiterpartei in Deutschland aufzubauen, dazu reichte der Kampf gegen den revisionistischen Verrat der DKP/KPD nicht aus. Dazu mußten die allgemeingültigen Lehren der Klassiker des Marxismus-Leninismus kritisch auf die heutigen Verhältnisse angewendet werden. So entstand das theoretische Organ REVOLUTIONÄRER WEG, für dessen Ausarbeitung und Leitung Willi von 1969 bis 1991 persönlich verantwortlich war.
Willi Dickhut - ein Arbeitertheoretiker
In dieser Arbeit entwickelte sich Willi Dickhut zum Arbeitertheoretiker, zum Theoretiker der Partei neuen Typs.
Jede der in dieser Zeit erschienenen 24 Nummern dieser Schriftenreihe behandelt ein bestimmtes Problem unserer Zeit. Alle zusammen bilden ein System für das Verständnis der heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse und die praktische Lösung der gegenwärtigen Aufgaben im Kampf zur Beseitigung von Ausbeutung und Unterdrückung.
In den 70er Jahren prägte zum Beispiel die sozialliberale Regierung unter Bundeskanzler Helmut Schmidt den bekannten Satz: »Die Investitionen von heute sind die Arbeitsplätze von morgen.«
Willi kam im REVOLUTIONÄREN WEG jedoch zu ganz anderen Erkenntnissen. Er analysierte die vom Monopolkapital ab 1973 mit voller Wucht durchgeführten drei Maßnahmen Rationalisierung, Konzentration und Kapitalexport. Alle drei bedeuteten den beschleunigten Abbau von Arbeitsplätzen und würden zu einer Massenarbeitslosigkeit als Dauererscheinung führen. Deshalb wurde ab dem 1. Mai 1974 als eine unserer wichtigsten Forderungen »Für die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich!« aufgestellt.
Man kann wohl ohne Übertreibung sagen, daß sich in den nachfolgenden anderthalb Jahrzehnten die Richtigkeit dieser Einschätzung und dieser Forderung voll und ganz bestätigt hat.
Überhaupt mußte von den 3719 Seiten REVOLUTIONÄRER WEG bisher nicht ein einziger Satz zurückgenommen werden.
Die theoretischen Grundlagen hart erworben
Die Voraussetzungen für diese theoretische Arbeit hat sich Willi über Jahrzehnte hinweg hart erwerben müssen. Man kann sich vorstellen, welch ungeheure Anstrengungen nötig sind, nach neun bis zwölf Stunden Arbeit im Betrieb eisern Selbststudium zu betreiben.
Willi schilderte, wie ihm in seinem möblierten Zimmer oft nach dem Studium von zwei bis drei Seiten die Augen zufielen. Er sagte sich jedoch:
»Du mußt unbedingt eine breitere theoretische Grundlage schaffen, sonst ist alles nur Handwerkelei.«
Er faßte den Beschluß, das Rauchen einzustellen, um das Geld lieber für den Erwerb der benötigten Bücher auszugeben. Als gelernter Schlosser und Dreher hatte Willi eine Abneigung gegen abstraktes Buchwissen. Er war gewöhnt, eine Sache unter dem Gesichtspunkt ihrer praktischen Funktionstüchtigkeit anzupacken, keine halben Sachen abzuliefern.
Willi stellte an sich den Anspruch, ständig sein Wissen zu erweitern, um tief in die Gesetzmäßigkeiten in Natur und Gesellschaft einzudringen. Während des II. Weltkrieges erstellte er zu den komplizierten Problemen des Mikro- und Makrokosmos die über 300 Seiten starke Studie »Materialistische Dialektik und bürgerliche Naturwissenschaft«.
Sind Weltall und Natur erschaffen worden beziehungsweise durch einen »Urknall« aus dem Nichts entstanden?
Willi nahm diese absurde Theorie vom Standpunkt des dialektischen Materialismus auseinander. Natur und Weltall existieren unendlich in Zeit und Raum, unabhängig vom menschlichen Bewußtsein.
Das zweifache Denken
Das war nur möglich, weil Willi sich die dialektische Methode tief zu eigen machte. Willi berichtete, wie er sich die Bestimmungen der Dialektik von Lenin aneignete:
»Als ich diese vor Jahrzehnten zum erstenmal in meinen Händen hatte, habe ich tagelang darüber nachgegrübelt, was die einzelnen Punkte bedeuten und was dahintersteckt. Dann ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen. Bei allen wichtigen Fragen habe ich sie mir genommen, Fragen, Probleme, Aufgaben, Stellungnahmen, Maßnahmen, kurz, alles womit eine Leitung zu tun hat, mit Hilfe der Bestimmungen der Dialektik zu beleuchten, zu untersuchen, zu charakterisieren, zusammenzufassen und dann zu entscheiden. Je gründlicher das gemacht wird, um so zutreffender, das heißt fehlerloser wird das.«
So erkämpfte sich Willi das zweifache Denken, das er uns jungen Genossen immer wieder eingeprägt hat: Zuerst ein Problem bis auf den Grund durchdenken, um sein Wesen zu erkennen; dann die Perspektive erfassen, das heißt, wie wir das Problem lösen wollen und in welchem Zusammenhang es steht.
Aufgrund dieser Fähigkeit, selbständig zu denken, war Willi nie ein willenloser Mitläufer oder braver Parteisoldat. Er war eher ein unbequemer, kritischer Geist gegen alle Erscheinungen des Opportunismus, des Sektierertums, gegen Funktionärsgehabe oder Karrierismus - und zwar ohne Ansehen der Person.
Dieser kritisch-selbstkritische Geist war auch die entscheidende Prägung, die Willi der MLPD gab, die es ohne Willi Dickhut nicht geben würde. Vor allem als Leiter der Zentralen Kontrollkommission 1972 bis 1976 entwickelte Willi eine beispielhafte Kritik und Selbstkritik.
Als 1975 das Frankfurter KABD-Mitglied Günther Jacob in die Zentrale Leitung des KABD kooptiert wurde und - erfaßt von bürgerlichem Ehrgeiz und Karrierestreben - daranging, die proletarische Linie des KABD zu revidieren, da schritt die Zentrale Kontrollkommission unter Leitung von Willi Dickhut schonungslos dagegen ein. Um sich als Führer der Arbeiterbewegung aufspielen zu können, wollte Günther Jacob die Ausrichtung des KABD an den Interessen der breiten Masse der Arbeiter aufheben. Dazu entwickelte er die sektiererische Theorie von der Orientierung auf die sogenannten »Fortgeschrittenen«, bei denen sich die Aufklärung wenigstens lohne, wobei die Masse der Kollegen als rückständig einzuschätzen sei.
Die Lage war kompliziert, weil es Jacob zeitweilig gelang, die gesamte Zentrale Leitung des KABD auf seine Seite zu ziehen. Das hätte das Ende des Parteiaufbaus bedeuten können.
Die ZKK verteidigte jedoch die auf den Marxismus-Leninismus gegründete Massenlinie des KABD und zerpflückte mit Hilfe der Aussagen von Lenin, Stalin und Mao Tsetung die massenfeindlichen Positionen Jacobs.
Willi baute auf die gesamte Mitgliedschaft des KABD und seiner Nebenorganisationen, die er in wenigen Wochen mit über 40 Rundbriefen informierte und zur Verteidigung der proletarischen Linie gegen die kleinbürgerliche Linie mobilisierte.
Die Zentrale Kontrollkommission erfuhr dabei breiteste Unterstützung. Aber Günther Jacob - so sehr er sich auch aufblies scheiterte kläglich.
Wer die Gelegenheit hatte, mit Willi zusammenzuarbeiten, war immer wieder beeindruckt, mit welcher Ruhe und Zielstrebigkeit er an die Lösung einer jeden Frage heranging. Wenn man die Tür zu seinem kleinen Arbeitszimmer durchschritten hatte, mußte man alle Hektik hinter sich lassen.
Das Geheimnis der Arbeitsweise Willi Dickhuts
Worin bestand das Geheimnis der Arbeitsweise Willis? An einen Mitarbeiter der Redaktion REVOLUTIONÄRER WEG schrieb Willi:
»Ich verlange von keinem Genossen einen Arbeitseinsatz, wie ich ihn während der ganzen Zeit des Parteiaufbaus praktiziert habe; ob Werktag, Sonntag oder Feiertag - für mich waren sie alle gleich, nur unterbrochen durch Arztbesuche, Kur- oder Urlaubszeit, um die Arbeitskraft zu erhalten. Wenn ich von anderen Genossen äußersten Einsatz verlange, dann mit folgender Einschränkung: im Rahmen seiner Fähigkeiten und Erfahrungen, seiner familiären Verhältnisse und seines gesundheitlichen Zustandes - alles andere ist eine Frage des Willens.«
Demgegenüber bestand die kleinbürgerliche Arbeitsweise, die Willi stets bekämpfte, darin, durch »wenn« und »aber« ständig gegen die Terminplanung Zeit zu gewinnen und die Lösung der Probleme vor sich herzuschieben. Das war ein Verfahren von unbestimmter Länge, auf das kein Verlaß war.
Mit der proletarischen Arbeitsweise hingegen konnten Analysen, Artikel, Manuskripte und andere Aufträge auf kürzestem Wege fertiggestellt werden.
Sein Vermächtnis
Ende Januar dieses Jahres drängte Willi, unverzüglich eine Schrift zu den Lehren zur Zukunft des Sozialismus herauszugeben und mit besonderem Einsatz unter den Werktätigen in den neuen Bundesländern zu verbreiten. So entstand in kürzester Zeit das im April veröffentlichte Buch »Sozialismus am Ende?«, in dessen planmäßige Erstellung Genosse Willi seine letzte Kraft gelegt hat. Diese letzte Schrift ist von zweifacher Bedeutung:
- enthält sie das Vermächtnis Willi Dickhuts nach 66 Jahren revolutionärer Tätigkeit; danach ist der Sozialismus keineswegs am Ende. Die historischen Erfahrungen mit der Entartung der herrschenden kleinbürgerlichen Bürokratie in den ehemals sozialistischen Ländern, ihre Verwandlung in eine neue kapitalistische Klasse und die damit verbundene Zerstörung des Sozialismus enthalten wichtige Lehren für die sozialistische Zukunft. Wenn die Arbeiterklasse sich diese Lehren zu eigen macht, wird sie erneut in die Offensive gehen und den Sozialismus erkämpfen.
- Die Lehre, die die Arbeiterklasse aus alledem ziehen muß, ist die ausschlaggebende Bedeutung des Kampfes gegen die kleinbürgerliche Denkweise für den Parteiaufbau, für die proletarische Revolution, ja für die gesamte Entwicklung der Gesellschaft im Sozialismus.
Willi stellt in dem Buch die weitreichende These auf:
»Mit einer kleinbürgerlichen Denkweise kann eine proletarische Partei zugrunde gerichtet werden!
Mit einer kleinbürgerlichen Denkweise läßt sich der Sozialismus nicht aufbauen!
Mit einer kleinbürgerlichen Denkweise kann man die sozialistische Gesellschaft zerstören!
Mit einer kleinbürgerlichen Denkweise wird ein Kapitalismus neuen Typs - der bürokratische Kapitalismus -restauriert!«
Über den Kampf zwischen kleinbürgerlicher und proletarischer Denkweise
Willi beschreibt in dem Buch anschaulich die verschiedenen Merkmale der kleinbürgerlichen Denkweise:
»Machtstreben und Sehnsucht nach Kapitalismus, Überheblichkeit, Arroganz, Karrieretum, individueller Führungsanspruch, lntrigantentum, Hinterhältigkeit, Egoismus, bürgerlicher Ehrgeiz, Liberalismus, Revisionismus, Demagogie, Phrasendrescherei, Diffamierung, Schmeichelei, Prinzipienlosigkeit, Schwätzerei, Disziplinlosigkeit, >Unabhängigkeit<, >Ultra<-Demokratismus, >Freiheit der Kritik<, Massenfeindlichkeit und Sektierertum.«
Die Lehre Willi Dickhuts vom Kampf zwischen proletarischer und kleinbürgerlicher Denkweise ist eine entscheidende Weiterentwicklung des Marxismus-Leninismus und wird uns jungen Marxisten-Leninisten helfen, dem Sozialismus zu einem neuen Ansehen unter der Arbeiterklasse zu verhelfen.
Die Lehre Willi Dickhuts besagt, daß es nicht reicht, eine richtige marxistisch-leninistische Linie zu haben, sondern das ganze Denken, Fühlen und Handeln der Revolutionäre und ihrer Partei muß vollständig von der proletarischen Denkweise durchdrungen sein.
Willi Dickhut war auf das Problem der Denkweise gestoßen, als 1969/70 im Zuge des Scheiterns der Studentenbewegung Tausende kleinbürgerliche Studenten in die junge marxistisch-leninistische Bewegung gestoßen waren. Das Gros dieser Intellektuellen führte zwar den Marxismus-Leninismus im Munde; es dachte aber weder proletarisch noch handelte es danach. Die Arbeiterbewegung war diesen Intellektuellen nur Mittel zum Zweck der eigenen Karriere, des Machtgefühls oder der Selbstbestätigung. 1982 schrieb Willi in einem Brief an kleinbürgerliche Möchtegern-Revolutionäre:
»Nur die unzertrennliche Einheit von Theorie und Praxis ist die Voraussetzung für den Parteiaufbau ... Wer die Einheit von Theorie und Praxis zerstört, wird zum Liquidator, ob er das erkennt oder nicht, beabsichtigt oder nicht.«
Die Frage der Denkweise ist nicht eine Frage moralischer Makellosigkeit oder eine besondere Form der Intellektuellenfeindlichkeit. Willi wußte, daß es keine hundertprozentige proletarische Denkweise geben kann und hat deshalb hingebungsvoll um jeden gekämpft, der ehrlich die Arbeiterbewegung unterstützen und mit dem Denken und Handeln der Arbeiter verschmelzen wollte.
Der proletarische Ehrgeiz Willi Dickhuts
Sein Verhalten war in allen Lebensbereichen durchdrungen vom proletarischen Ehrgeiz. Willi definierte diesen proletarischen Ehrgeiz so:
»Proletarischer Ehrgeiz stellt die Sache des Proletariats in den Mittelpunkt, ihm ist Selbstsucht zuwider, überdurchschnittliche Leistung in der täglichen Arbeit soll für andere Beispiel und Ansporn sein bei eigener Bescheidenheit, Streben nach kollektivem Arbeits- und Führungsstil, übt ohne Rücksicht auf Personen offene, ehrliche, kameradschaftliche Kritik und leistet freimütig Selbstkritik. Sein Streben ist, alles zu tun und zu opfern, was der Arbeiterbewegung und der Revolution dient.«
Die Meinungen der Streikposten bei der Solinger Müllabfuhr interessierten ihn ebenso brennend wie die Kämpfe der Stahlarbeiter in Ostdeutschland und die Auseinandersetzung der Menschen der ehemaligen DDR über die Zukunft des Sozialismus. Doch bei allem Vertrauen in die Massen war Willi Dickhut sich darüber klar, daß es jahrzehntelanger, intensiver Klein- und Überzeugungsarbeit bedarf, um die Massen vom Sozialismus zu überzeugen. Ihm war bewußt, daß die Arbeiterklasse nur erfolgreich sein wird, wenn sie die Fesseln sprengt, die der Kapitalismus ihrem Wissen, ihren Kenntnissen, ihren kulturellen Fähigkeiten anzulegen versucht. Dafür helfen keine weitschweifigen, hochgeschraubten Reden, sondern wissenschaftliche Klarheit, präzise Kenntnisse und konkrete treffende Argumente. Willi wußte, daß sich nur der kurz, konkret, verständlich ausdrücken kann, der eine Sache wirklich tiefgehend durchdacht und verstanden hat.
Kurz, konkret, verständlich
Er verabscheute das geschwollene, phrasenhafte und verworrene Geschreibsel vieler »Linken«, deren aufgedonnerte Schreibweise nur die eigene Klugheit demonstrieren will und die Massen für dumm erklärt. Kopfschüttelnd saß er einmal vor einem Ausrichtungspapier der Parteileitung:
»Schau dir diesen Absatz an: 16 Zeilen! 3 Nebensätze verschachtelt! Und keiner weiß, was damit gesagt werden soll. Geschweige denn, was zu tun ist. Was sollen nur unsere Genossen in den Gruppen damit anfangen?«
»Wenn du schreibst und sprichst, so mußt du stets an den einfachen Arbeiter denken, der dich verstehen, deinem Rufe glauben und dir mit Bereitschaft folgen soll! Du mußt daran denken, für wen du schreibst und zu wem du sprichst!« Diese Aufforderung Georgi Dimitroffs hat Willi Dickhut mit Leben erfüllt.
Willis Haltung bei jeder noch so kleinen Aufgabe war: Das Beste ist gerade gut genug. Keine Arbeit war Willi zu einfach oder zu primitiv, um nicht das Optimale daraus zu machen.
Das galt aber keinesfalls nur für die direkte politische Arbeit: Als Facharbeiter im Betrieb entwickelte er zum Beispiel zahlreiche Vorrichtungen zur Arbeitserleichterung für seine Kollegen. Er konstruierte und modernisierte Maschinen, um den Kollegen die anstrengendsten und verhaßtesten Arbeiten so weit wie möglich zu ersparen, den Produktionsablauf zu vereinfachen und zu effektivieren.
Keine technische Neuerung wurde freilich eingeführt ohne abzusichern, daß die Arbeitserleichterung keine Abgruppierung für die Kollegen zur Folge hatte.
Bei diesem Forscherdrang hatte Willi natürlich noch »Hintergedanken«: Er wollte unbedingt praktische Erkenntnisse für den Sozialismus sammeln, wie technische Neuerungen die Motivation der Arbeiter beleben, einen Betrieb in Schwung zu bringen. Nie gab er sich also mit Mittelmäßigem oder durchschnittlicher Qualität zufrieden. Dementsprechend zuwider waren ihm Lässigkeit, Oberflächlichkeit oder Trott in der Arbeit. Da konnte er fuchsteufelswild werden. Denn er sah darin eine Mißachtung der Arbeiter und der Verantwortung der Partei ihnen gegenüber. So hat Willi einem Mitarbeiter in der theoretischen Arbeit die Zusammenarbeit aufgekündigt, weil er in einem Lenin-Zitat gleich drei sinnentstellende Tippfehler gemacht hatte.
Willi verlangte viel von anderen, aber zugleich praktizierte er den Grundsatz: »Nie mehr von anderen verlangen, als man selbst doppelt zu geben bereit ist!«
Die Zusammenstellung der »Sammelbände des Marxismus-Leninismus«, die mehrere tausend Zitate der Klassiker nach Stichworten ordnen, und für die zig Bände der Klassiker des Marxismus-Leninismus mehrmals durchgearbeitet werden mußten, erarbeitete er zum Beispiel zu einem Zeitpunkt, wo seine Augenkrankheit nur noch ein äußerst angestrengtes Lesen mit einer großen Lupe möglich machte.
»Ihr glaubt nicht, was das für eine Quälerei ist«, sagte er, »aber die Genossen haben dann doch ein ganz wichtiges Hilfsmittel. Sie können zu einem wichtigen Thema viel leichter das Wesentliche finden. Die meisten können sich doch nicht die ganzen gesammelten Werke kaufen. Und ihr braucht diese Grundlagen dringend.«
Willi war aber trotz angestrengter Arbeit alles andere als ein Asket oder pedantischer Kleinkrämer und schon gar kein Kind von Traurigkeit. Bei Geburtstagsfeiern kam man oft aus dem Lachen nicht heraus über seine Anekdoten und schlagfertigen Sprüche, und mit Hingabe verzehrte er ein leckeres Essen oder genoß einen guten Tropfen.
Formen, nicht brechen!
Trotz intensiver theoretischer Arbeit verabschiedete sich Willi nie von der Kleinarbeit der Ortsgruppe. Er verkaufte Bücher, diskutierte mit Nachbarn und Besuchern und sorgte sich um die pünktliche Kassierung jedes Beitrags ebenso wie um die persönlichen Sorgen und Nöte jedes Mitglieds. Denn der Mensch stand für ihn im Mittelpunkt - und das betraf keineswegs nur die Parteimitglieder!
So hatte er auch großes Interesse an den Kindern der Nachbarschaft. Besonders ins Herz geschlossen hatte er Iwan, einen fünfjährigen Rabauken aus dem Nachbarhaus. Tag für Tag wollte der Willis schwarzen Spazierstock klauen, wenn Willi vom täglichen Rundgang heimkam. Während die Eltern schon mal kräftig mit Iwan schimpften, erklärte Willi ihm immer wieder von neuem, warum er den Stock unbedingt brauchte. Einmal beschloß Willi:
»Ich muß doch mit Iwans Vater sprechen. Er soll den Jungen nicht allzu streng anpacken. Weißt du, der Iwan hat was Kämpferisches, einen hartnäckigen Willen. Den darf man nicht brechen - den muß man formen.«
»Wir werden ihn sehr vermissen«, sagte eine Nachbarin nach seinem Tod. »Er hat sich doch wirklich um alles gekümmert! « Egal, ob die Haustür geölt werden oder die Glühbirne im Treppenhaus erneuert werden mußte, ob die von ihm regelmäßig kontrollierte Wasseruhr einen viel zu hohen Verbrauch anzeigte und er deshalb mit den Stadtwerken stritt, ob er über die sorgfältige Einhaltung der Pflichten jedes Mieters bezüglich der Kehrwoche und Ordnung im Keller wachte - immer hatte er dabei die gemeinschaftlichen Interessen im Auge. Vor kurzem noch schien ihm der Wasserhahn im Badezimmer zu tropfen - umgehend mußte das repariert werden:
»Wie schnell kommt da ein Kubikmeter zusammen - und das Wassergeld wird doch im Haus auf alle Mieter umgelegt! Also, das muß sofort gemacht werden.«
Im Kleinen und im Großen, im Offenkundigen und im Verborgenen, im Politischen und im Privaten - für Willi Dickhut galt überall der gleiche Maßstab: vorbehaltloser, selbstloser Einsatz des ganzen Menschen.
Das macht ihn zum Vorbild und Ansporn für jeden Genossen.
»Wenn ihr mich ehren wollt ...«
Auf diesem Hintergrund entstand 1982 bei Bielefelder Genossen der gutgemeinte Vorschlag, Willi zum Ehrenvorsitzenden der Partei zu ernennen. Als er den Vorschlag hörte, so berichtet seine Frau Luise, verzog sich sein Gesicht in tausend abwehrende und gequälte Falten: »Tut mir das nicht an!«
Seinem proletarischen Ehrgeiz waren Orden, Titel und Ehrungen im üblichen Sinne fremd. In einem freundschaftlichen Schreiben erläuterte er dies den Bielefelder Genossen und schloß mit den Worten:
» Und wenn Ihr mich >ehren< wollt, dann verstärkt Eure ideologische, politische und organisatorische Arbeit beim Aufbau der revolutionären Partei in Verbindung mit der Organisierung und Führung von Kämpfen der Arbeiterklasse.«
In seinen letzten Tagen bekam Willi einen Stoßseufzer zu hören:
»Ach Willi, wir werden dich schrecklich vermissen.« Er lachte uns herzlich an und meinte trocken:
»Es ist ganz einfach. Erstens, ihr müßt euch daran gewöhnen. Und zweitens - müßt ihr's nachmachen.«
In diesem Sinn wollen wir Willi Dickhut ehren!