Willi Dickhut
Wirtschaftsfragen und Klassenkampf
Briefwechsel und Dokumente Willi Dickhuts 1974
14.6.74
Lieber Willi
Hoffentlich hast Du Dich in Solingen wieder gut eingelebt. Ein Mitarbeiter der Redaktion hat den Rohstoffartikel der Wirtschaftsabteilung etwas aktualisiert und den Aufbau leicht umgestellt. Mir hat der Artikel insbesondere klargemacht, wie die Imperialisten notwendigerweise wieder Kriege vorbereiten müssen, um ihr Paradies zu erhalten.
Bei der letzten Redaktionssitzung hatten wir Schwierigkeiten mit dem Inflationsartikel, dessen Entwurf beigelegt ist. Wie die Monopole ihre Machtposition ausnutzen, um die Preise hochzutreiben, wird zwar ausführlich dargelegt, aber die Politik des Staats kommt zu kurz …
Vom Sekretariat wurde uns vorgeschlagen, einmal einen Artikel über die längerfristige Entwicklung der Wirtschaft zu bringen, wie sich aus dem gegenwärtigen Aufschwung schließlich eine Krise entwickeln wird. Dies halte ich insbesondere deshalb für wichtig, um Mißverständnisse unserer korrekten Einschätzung der gegenwärtigen Wirtschaftslage zu vermeiden. Manche Genossen schlossen aus dem Schlußsatz des letzten Wirtschaftsartikels »Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht abzusehen«, wir seien der Meinung oder würden zumindest den Lesern den Eindruck vermitteln, der Kapitalismus sei langfristig stabil und krisenfest.
Ich schicke Dir noch ein Protokoll einer Schulungssitzung im Archiv, bei der einige Fragen aufgetaucht sind, über die ich mir nicht klar bin und die ich deshalb angestrichen habe. Vielleicht kannst Du mir dazu gelegentlich ein paar Hinweise geben …
Beiliegend außerdem ein Archivbericht.
Rot Front! K.
26.6.74
Lieber K.!
Deinen Brief vom 14. 6. habe ich erst am 25. 6. erhalten. Obwohl ich nach meiner Rückkehr durch Behandlung einiger Probleme überlastet bin, will ich Dir doch gleich eine Antwort geben.
Wenn ich nicht irre, hattest Du mir den Inflationsartikel bereits zur Übermittlung an die Wirtschaftsabteilung zugeschickt (mit Statistiken). Sie sollte ihn bearbeiten und Dir zurückschicken, weil ich ja in Urlaub fuhr. Ich halte den Artikel für sehr schwach, er müßte meines Erachtens ganz umgeschrieben werden. Wir können uns gegenwärtig nicht damit abgeben, weil ich die Wirtschaftsabteilung für die Erstellung des Revolutionären Wegs 13 eingespannt habe und wir möglichst bald damit fertig werden wollen. Darum schicke ich ihn Dir zurück.
Der Vorschlag des Sekretariats sollte meines Erachtens zurückgestellt werden, bis wir mit dem Revolutionären Weg 13 fertig sind. Sein Thema lautet »Wirtschaftsentwicklung und Klassenkampf«. Du könntest kurz vor Erscheinen einen Auszug daraus bringen, so wie beim Revolutionären Weg 12. Da die behandelten Probleme sehr kompliziert sind, wäre es ratsam, erst das Manuskript abzuwarten, um eine widersprüchliche Darlegung zu vermeiden …
Einige Fragen zum Protokoll der Schulung. Die Mitbestimmung über Lohn- und Arbeitsbedingungen ist kein Gewohnheitsrecht, sondern ein Ergebnis des Kampfs um den Lohn, dessen Höhe vom Kräfteverhältnis zwischen Arbeitern und Unternehmern abhängt. Diese zwar echte Mitbestimmung über Verkauf und Auswertung der Arbeitskraft beruht nicht auf Teilung der Macht, sondern vollzieht sich unter Alleinherrschaft der Bourgeoisie. Ein Lohnkampf an sich berührt nicht die Macht der Bourgeoisie und ist deshalb auch noch kein Klassenkampf. Nur durch die Zusammenfassung der Vielheit von Lohnkämpfen entwickeln sie sich zum Klassenkampf.
Der Kampf um Erhaltung und Ausweitung der bürgerlich-demokratischen Rechte und Freiheiten dient nicht der Durchführung der Revolution, sondern auf lange Sicht deren Vorbereitung. Es ist ein Kampf um politische Reformen, der wie der Kampf um ökonomische Reformen als Schule des Klassenkampfs dient, aber nicht den Sturz der kapitalistischen Gesellschaftsordnung zum Ziel hat. Dazu ist ein Kampf um Reformen auch nicht in der Lage. Je mehr demokratische Rechte und Freiheiten, um so leichter wird die vorbereitende Arbeit für die zukünftigen Klassenschlachten. Die Bourgeoisie macht Teilzugeständnisse, um eine revolutionäre Entwicklung der Arbeiterklasse zu verhindern (darin liegt der Doppelcharakter des Kampfs um Reformen). Gelingt ihr das nicht, weil die Klassenkämpfe sich verschärfen, versucht sie es mit Gewalt, dann hebt sie die Zugeständnisse wieder auf.
Wir müssen bei der Frage der sozialen Hauptstütze der Bourgeoisie unterscheiden:
1. Die bürgerlichen Parteien von der SPD bis zur faschistischen Partei sind ausführende Organe der Politik des Monopolkapitals, die jeweilige Regierung ist der Geschäftsführer des Monopolkapitals zur Realisierung dieser Politik, die von der stärksten Gruppe des Monopolkapitals bestimmt wird (das Monopolkapital ist wegen der Interessen der verschiedenen Schichten und der Gegensätze im eigenen Lager nicht einheitlich – die Gruppierungen verschieben sich, und die sich herauskristallisierende Hauptgruppe bestimmt die jeweilige Politik). Bei der Realisierung dieser Politik muß sich die Hauptgruppe auf die Partei stützen, die für die Durchführung der jeweiligen Politik (vor Jahren die CDU/CSU unter Adenauer, jetzt die SPD/FDP unter Brandt und Schmidt) am geeignetsten ist und über eine entsprechend große Massenbasis verfügt, um die jeweilige Politik möglichst reibungslos zum Tragen zu bringen. Eine Partei kann nur dann die soziale Hauptstütze der Bourgeoisie sein, wenn sie diese Bedingung erfüllt. Verliert sie die Massenbasis, wird diese Partei als soziale Hauptstütze der Bourgeoisie ausgewechselt, was nicht nur durch Neuwahlen erreicht werden kann (zum Beispiel kann die FDP aus der Koalition mit der SPD heraustreten und mit der CDU/CSU eine neue soziale Hauptstütze bilden). Schwindet ihre Massenbasis allgemein und wird diese von einer faschistischen Partei aufgesogen wie vor 1933, dann wird diese Partei zur sozialen Hauptstütze. Reicht die Massenbasis keiner dieser Parteien aus, wird durch Errichtung der Militärdiktatur das Militär zur Hauptstütze der Aufrechterhaltung der Macht.
2. Der Sozialdemokratismus ist die soziale Hauptstütze der Bourgeoisie im Lager der Arbeiterklasse, eine Agentur der Bourgeoisie, die die Aufgabe hat, die Arbeiterklasse zu zersetzen, sie vom Klassenkampf abzuhalten, sie zu verwirren, zu täuschen, zu verraten. Die SPD ist gerade wegen dieser Doppelrolle eine besonders wertvolle Hauptstütze der Bourgeoisie. Reformismus und Revisionismus als Erscheinungsformen des Sozialdemokratismus, gestützt auf die Gewerkschaften, sorgen für eine relativ starke und stabile Massenbasis, auf die sich die SPD als Regierungspartei stützen kann. Also: Sozialdemokratismus als Agentur der Bourgeoisie im Lager der Arbeiterklasse und Sozialdemokratismus als bürgerliche Regierungspartei bilden wie zwei Seiten einer Medaille die gegenwärtige soziale Hauptstütze der Bourgeoisie. Kommt der Sozialdemokratismus als Agentur und als Regierungspartei durch seine arbeiterfeindliche Politik bei den Massen in Mißkredit, dann schmilzt die Massenbasis, verliert dadurch den Wert als soziale Hauptstütze der Bourgeoisie und wird ausgewechselt (siehe 1932/33 die Machtübernahme durch den Faschismus beziehungsweise durch die NSDAP, weil keine andere bürgerliche Partei über die notwendige Massenbasis mehr verfügte). Der Satz »Der Sozialdemokratismus leugnet den Klassenkampf« ist richtig. Er leugnet nicht das Bestehen der Klassen, das tut auch die Bourgeoisie nicht, wenn beide auch bestrebt sind, den Klassencharakter der Gesellschaft zu vertuschen. Wer die Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats nicht anerkennt, das seht Ihr richtig, der kann auch nicht den Klassenkampf anerkennen, denn die Diktatur des Proletariats ist das Ziel des proletarischen Klassenkampfs. Da der Sozialdemokratismus nur den Kampf um Reformen im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung anerkennt, leugnet er dadurch den Klassenkampf, denn der Kampf um Reformen an sich ist noch kein Klassenkampf, sondern nur eine Schule des Klassenkampfs, wie das im Revolutionären Weg 12 dargelegt wurde. Er enthält wohl Keime des Klassenkampfs, gewissermaßen die unterste Stufe, an die fortgeschrittene Proletarier anknüpfen müssen, um diese Keime zu entwickeln, das Klassenbewußtsein zu heben und die Kämpfe zum revolutionären Klassenkampf auszudehnen. Lenin schreibt in »Das Militärprogramm der proletarischen Revolution«:
»Wer den Klassenkampf anerkennt, der kann nicht umhin, auch Bürgerkriege anzuerkennen, die in jeder Klassengesellschaft eine natürliche, unter gewissen Umständen unvermeidliche Weiterführung, Entwicklung und Verschärfung des Klassenkampfs darstellen. Alle großen Revolutionen bestätigen das. Bürgerkriege zu verneinen oder zu vergessen hieße in den äußersten Opportunismus verfallen und auf die sozialistische Revolution verzichten.«
Anerkennt der Sozialdemokratismus den Bürgerkrieg? Weder die SPD noch die DKP, die sich mit dem Firmenschild des Marxismus-Leninismus tarnt, anerkennen den bewaffneten Aufstand und Bürgerkrieg, sie verkünden den »friedlichen Weg«. Selbst wer den Klassenkampf anerkennt, wie die DKP es in Worten tut, ist kein Marxist, trotz seines Aushängeschilds. Das wird von Lenin in »Staat und Revolution« betont:
»Wer nur den Klassenkampf anerkennt, ist noch kein Marxist, er kann noch in den Grenzen bürgerlichen Denkens und bürgerlicher Politik geblieben sein. Den Marxismus auf die Lehre vom Klassenkampf beschränken heißt den Marxismus stutzen, ihn entstellen, ihn auf das reduzieren, was für die Bourgeoisie annehmbar ist. Ein Marxist ist nur, wer die Anerkennung des Klassenkampfes auf die Anerkennung der Diktatur des Proletariats erstreckt.« »… Der Opportunismus macht in der Anerkennung des Klassenkampfes gerade vor der Hauptsache halt, vor der Periode des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus, vor der Periode des Sturzes der Bourgeoisie und ihrer völligen Vernichtung.«
Die DKP leugnet die Diktatur des Proletariats, fälscht diese Grundlehre des Marxismus-Leninismus in ein »Bündnis des Proletariats mit kleinbürgerlichen Schichten« um. Sie ist darum zu einem Teil des Sozialdemokratismus geworden. Da der proletarische Klassenkampf gerade dadurch gekennzeichnet ist, daß er den Sturz der kapitalistischen Herrschaft, die Errichtung der Diktatur des Proletariats, die Anwendung aller Formen des Klassenkampfs einschließlich des bewaffneten Kampfs auf seine Fahne schreibt, also das, was der Sozialdemokratismus nicht anerkennt, leugnet der Sozialdemokratismus überhaupt den Klassenkampf und beschränkt sich auf den Kampf um Reformen im Rahmen der kapitalistischen Ordnung, der an sich noch kein Klassenkampf ist.
In der Frage der Unvermeidlichkeit von Kriegen im Imperialismus verweise ich auf Stalins »Ökonomische Probleme des Sozialismus«, Abschnitt 6. Die Revisionisten haben die These von der Unvermeidlichkeit von Kriegen im Imperialismus aufgegeben, weil sie mit ihrem Pazifismus nicht in Einklang gebracht werden kann.
Die Arbeiteraristokratie beschränkt sich natürlich nicht nur auf sozialdemokratische und Gewerkschaftsbonzen, sie sind wohl die Hauptvertreter, aber auch in den Betrieben gibt es unter den Vorarbeitern, Meistern, Betriebsleitern, Betriebsräten usw. genügend Leute, die sich haben bestechen lassen und zu Arbeiteraristokraten geworden sind. Aber hier heißt es vorsichtig sein. Man muß genau differenzieren. Die höhere Bezahlung allein ist kein Merkmal der Arbeiteraristokratie, entscheidend ist das Verhalten der Arbeiterklasse und dem Klassenkampf gegenüber. Anderseits gibt es das Lumpenproletariat, das sich als Verräter und Streikbrecher für einen Judaslohn dingen läßt. Man muß in jedem Einzelfall entscheiden und in jedem Fall Schematismus vermeiden. Außerdem müssen wir erkennen, daß die Rationalisierung selbst vor der Arbeiteraristokratie nicht halt macht. Wer heute noch glaubt, eine sichere Stelle zu haben, kann sich in absehbarer Zeit bei den Arbeitslosen einreihen. Die Gewerkschaftsbürokratie wird davon allerdings nicht betroffen.
Ihr könnt vielleicht fragen, warum wurden die Probleme im Revolutionären Weg nicht ausführlicher behandelt? Dann würde es ein Buch werden, und wir wollen den Umfang des theoretischen Organs über eine gewisse Grenze nicht überschreiten. Außerdem würden trotzdem Fragen offenstehen, die bei der Schulung aufkommen und die durch die Diskussionen geklärt werden müssen. Vor allem aber soll der Revolutionäre Weg nicht das Selbststudium der Klassiker des Marxismus-Leninismus ersetzen, sondern vielmehr anregen, das Studium systematisch zu betreiben. Dann ist noch etwas zu berücksichtigen: Die Einzelnummern des Revolutionären Wegs bilden zusammen ein ganzes System, bestimmte Probleme oder Fragen, die in der einen Nummer nur gestreift werden, werden in einer anderen Nummer ausführlicher behandelt oder näher untersucht.
Lieber K., sollten trotzdem noch Unklarheiten bestehen, die ihr unter Euch nicht ausbügeln könnt, dann schreibe mir. Ansonsten
herzlichen Gruß
Willi