Willi Dickhut
Wirtschaftsentwicklung in der BRD
Briefwechsel und Dokumente Willi Dickhuts 1974
26.2.74
Lieber K
Eben erhielt ich den beiliegenden Artikel von der Wirtschaftsabteilung, er geht mit der nächsten Post sofort ab. Da noch etwas Zeit ist, will ich Deinen Brief vom 21.2. betreffs Kritik an den Artikeln über die Wirtschaftskrise von mir aus beantworten, obwohl ich ihn mit der Wirtschaftsabteilung noch nicht besprochen habe. Der Artikel hatte den Sinn, das Krisengerede der letzten Monate zu widerlegen, ohne eine Prognose aufzustellen. Das Krisengerede beschränkte sich nicht auf die bürgerliche Propaganda, sondern der »Rote Morgen« wie auch der KBW tuteten in das gleiche Horn, wobei nach deren Verlautbarung die Wirtschaft vom Fieber der Krise geschüttelt wird. Sie merkten gar nicht, daß sie dem Zweckpessimismus der Unternehmer und der Massenmedien das Wort redeten und mit dazu beitrugen, daß die Arbeiter eingeschüchtert wurden. Daß in dem Artikel der Wirtschaftsabteilung nüchtern und sachlich dem widersprochen wurde, ist sehr positiv. Daß das mit einer Sicherheit geschah, die sich auf konkrete Zahlen stützt, sollte vor allem unsere Genossen bestärken, um ihnen eventuelle Zweifel zu nehmen. Auch aus Deinem Brief (siehe Punkt 2 und 3) klingen gewisse Zweifel über die Ursache der Schwierigkeiten in der Auto- und Bauindustrie. Wir sollen uns nicht von bürgerlichen Argumenten verblüffen lassen.
Die nächsten Jahre werden der Arbeiterklasse schwere Zeiten bescheren, das heißt, die relative Verelendung wird wachsen, die Zahl der Arbeitslosen und Kurzarbeiter beträchtlich steigen. Durch Entstehung einer industriellen Reservearmee werden die Reallöhne gedrückt. Daneben werden die Maximalprofite noch höher geschraubt. Die Ursache dieser Erscheinung braucht nicht unbedingt und zunächst in einer tiefgreifenden Wirtschaftskrise zu suchen sein, vielmehr in bewußt gesteuerten Maßnahmen:
1. Verstärkte Konzentration des Kapitals, wodurch im Sinne des Monopolkapitals unrentable Betriebe stillgelegt werden und die Produktion auf die rentablen Betriebe verlagert wird. Folge: Arbeiter werden entlassen.
2. Umfangreiche Rationalisierungsmaßnahmen und Automation in Großbetrieben, das heißt Steigerung der Arbeitsproduktivität und in Verbindung damit erhöhte Arbeitsintensität. Folge: Arbeiter werden entlassen.
3. Staatlich geförderter Kapitalexport durch Verlagerung von Betrieben in Niedriglohnländer und Einfuhr der dort produzierten Halbfertigwaren, die hier fertig produziert werden, zum Beispiel Rohstahl und Walzknüppel in Edelstähle und Feinwalzprodukte oder gewebte Stoffe in Bekleidungsartikel. Auch Fertigproduktionsbetriebe werden verlagert, zum Beispiel Produktion von Kameras und Schuhen, weil die Löhne bis auf ein Sechstel niedriger sind als hier bei uns. Hiesige Betriebe werden stillgelegt oder gehen bankrott. Folge: Arbeiter werden entlassen.
4. Diese Maßnahmen schränken die Aufnahmefähigkeit des Binnenmarktes ein und, da solche Maßnahmen von allen monopolkapitalistischen Ländern eingeleitet werden, auch den Weltmarkt. Es entsteht eine Überproduktionskrise und ein verschärfter Konkurrenzkampf der Monopolgruppen untereinander, der auf Kosten der noch beschäftigten Arbeiter ausgetragen wird, das heißt durch rapiden Lohnabbau und durch Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, also durch verstärkte Ausbeutung, wobei die Arbeitslosenarmee als Druckmittel benutzt werden wird.
Die Entwicklung muß zu einer Verschärfung des Klassenkampfs führen, und darauf müssen wir uns einstellen. Allerdings geht der Prozeß nicht so schnell vor sich, wie manche annehmen. Die relative Stabilisierung des Kapitalismus wird noch eine Zeitlang dauern.
Alles Gute und herzliche Grüße
Willi