Willi Dickhut
Über die dialektische Methode
Grundsätzliche Briefwechsel und Dokumente Willi Dickhuts 1971
Genosse Dickhut! 30. 5. 71
In Deinem durchaus guten Revolutionären Weg 6 ist uns eine Stelle unklar:
Auf Seite 13 schreibst Du, daß das Ergebnis zweier Negationen eine Synthese sei. Im Philosophischen Wörterbuch wird Synthese als »Verfahren zur Erkenntnis oder Konstruktion materieller oder ideeller Systeme, dessen Wesen in der gedanklichen oder praktischen Verbindung einzelner Elemente zu einem Ganzen besteht«, bezeichnet.
Nehmen wir Dein Beispiel aus der Philosophie. Der dialektische Materialismus kann niemals eine Synthese aus Materialismus und Idealismus (These und Antithese) sein, da er das ursprüngliche, also Materialismus, auf höherer Stufe ist und nicht Verbindung zwischen Materialismus und Idealismus. Der dialektische Materialismus ist zwar durch These und Antithese entstanden, aber niemals aus den beiden.
Wir bitten Dich um eine Stellungnahme zu dieser Frage.
Rot Front!
i. A. Kurt
Liebe Genossen!
12. 6. 71
Besten Dank für Euren Brief vom 30. 5. 71, den ich gestern erhielt. Ich begrüße ihn wegen der regen Teilnahme an der Diskussion über das Thema des Revolutionären Wegs 6. Ich kann verstehen, wenn bei dem Fragenkomplex der dialektischen Methode nicht auf Anhieb volle Klarheit entsteht. Es ist ein schwieriges Thema, dem wir aber nicht deshalb aus dem Wege gehen sollten, weil es nicht einfach ist. Die dialektische Methode ist für unsere Praxis von ausschlaggebender Bedeutung. Wir können nur dann eine gute Praxis durchführen, wenn wir die dialektische Methode begreifen und zielbewußt anwenden.
In den ersten Jahren meiner Praxis als Arbeiterfunktionär habe ich das auch nicht verstanden und darum mehr oder weniger in Handwerkelei gemacht, ganz abgesehen davon, daß es jedem Arbeiter, wenn er sich ernsthaft mit der Theorie des Marxismus-Leninismus befaßt, schwerfällt, die theoretischen Schriften systematisch zu studieren. Umgekehrt fällt es den meisten Intellektuellen leicht, sich Buchwissen anzueignen und über den dialektischen Materialismus zu reden und zu schreiben, ohne die dialektische Methode begriffen zu haben. Darin liegt meines Erachtens auch die Hauptursache der entscheidenden Fehler, die diese Leute in der marxistisch-leninistischen Bewegung gemacht haben (siehe Revolutionärer Weg 3, 4, 5, Sondernummer). Deshalb sollte der Revolutionäre Weg 6 als Anleitung dienen, wie die dialektische Methode in der Arbeiterbewegung angewandt werden kann, als Anregung, um die Eigeninitiative der Genossen zu fördern, denn das ist von entscheidender Bedeutung, besonders dann, wenn unter den Bedingungen der Illegalität gearbeitet werden muß.
Um aber konkret auf die Anwendung der dialektischen Methode zu kommen, mußten erst die wichtigsten Begriffe des dialektischen Materialismus geklärt werden; das geschah im ersten Teil des Revolutionären Wegs 6. Um ihn so kurz wie möglich zu halten, kann es sein, daß hier und da etwas noch nicht klar genug ausgedrückt wurde. Nur bin ich der Meinung, daß wir nicht so herangehen sollten, wie in Eurem Brief. Im ersten und letzten Satz schreibt Ihr, daß Euch eine Stelle unklar sei und bittet um meine Stellungnahme, aber im vorletzten Satz bringt Ihr eine absolute Meinung zum Ausdruck. Das ist nicht nur widerspruchsvoll, sondern auch metaphysisch. Ihr werdet das vielleicht besser verstehen, wenn ich auf Euren Brief konkret eingehe.
1. Zur Klärung des Begriffs Synthese beruft Ihr Euch auf das Philosophische Wörterbuch. Dieser Satz ist wohl richtig, aber etwas abstrakt, weil er zwei Seiten zusammenfaßt: materielle und ideelle Systeme. So bedeutet Synthese in der Chemie: Aufbau eines Stoffes aus Elementen beziehungsweise einfachen Verbindungen (materielle Verbindung) und in der Philosophie: als wichtiges Moment im idealistisch-dialektischen Prozeß: Verbindung zweier gegensätzlicher Begriffe in einem (höheren) dritten. Die einfachste Definition ist: Vereinigung, Zusammenfügung von Teilen zu einem (höheren) Ganzen. Negation der Negation beinhaltet sowohl Aufhebung wie Erhaltung in höherer Form: als Synthese. Hier ist auch der dialektische Materialismus keine Ausnahme, wie Ihr in dem vorletzten Satz zum Ausdruck bringt.
2. Das Beispiel der Negation der Negation in der Philosophie im Revolutionären Weg 6 stützt sich auf Engels »Anti-Dühring«, XIII. Kapitel, »Dialektik«. Hier heißt es:
»Die antike Philosophie war ursprünglicher, naturwüchsiger Materialismus. Als solcher war sie unfähig, mit dem Verhältnis des Denkens zur Materie ins reine zu kommen. Die Notwendigkeit aber, hierüber klarzuwerden, führte zur Lehre von einer vom Körper trennbaren Seele, dann zu der Behauptung der Unsterblichkeit der Seele, endlich zum Monotheismus. Der alte Materialismus wurde also negiert durch den Idealismus. Aber in der weitern Entwicklung der Philosophie wurde auch der Idealismus unhaltbar und negiert durch den modernen Materialismus. Dieser, die Negation der Negation, ist nicht die bloße Wiedereinsetzung des alten, sondern fügt zu den bleibenden Grundlagen desselben noch den ganzen Gedankeninhalt einer zweitausendjährigen Entwicklung der Philosophie und Naturwissenschaft, sowie dieser zweitausendjährigen Geschichte selbst. Es ist überhaupt keine Philosophie mehr, sondern eine einfache Weltanschauung, die sich nicht in einer aparten Wissenschaftswissenschaft, sondern in den wirklichen Wissenschaften zu bewähren und zu betätigen hat. Die Philosophie ist hier also ›aufgehoben‹, das heißt ›sowohl überwunden als aufbewahrt‹; überwunden, ihrer Form, aufbewahrt, ihrem wirklichen Inhalt nach.«
Jetzt vergleicht bitte dieses Zitat Engels mit dem, was ich im Revolutionären Weg 6, Seite 15 geschrieben habe, und stellt Euren Satz »Der dialektische Materialismus ist zwar durch These und Antithese entstanden, aber niemals aus den beiden« daneben. Könnt Ihr jetzt Euren Fehler erkennen? Warum ist der Satz metaphysisch? Weil Ihr den urwüchsigen Materialismus, den Idealismus und den dialektischen Materialismus als fertige Dinge nebeneinanderstellt, indem Ihr den Prozeß des Aufhebens und gleichzeitig Aufbewahrens nicht verstanden habt. Aber darin liegt gerade die Dialektik des Denkens.
Liebe Genossen, es würde mich sehr interessieren, wie Eure Diskussion weiter verläuft, und ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr mir darüber berichten würdet.
Rot Front!
Willi
Lieber Genosse! 31. 10. 71
Wir danken Dir für Deinen Brief, aber um eine endgültige Entscheidung treffen zu können, müssen wir noch einige Fragen geklärt wissen. Das liegt hauptsächlich an uns, denn als wir den ersten Brief an Dich richteten, waren einige Fragen noch nicht soweit ausdiskutiert, daß wir sie ausreichend klar stellen konnten; aber Du hast Dich auch zu einigen Punkten etwas unklar ausgedrückt.
Wir möchten daher zunächst unsere Kritik am Revolutionären Weg 6 wiederholen und danach zu unseren Fragen betreffs Deines letzten Briefes übergehen.
Auf Seite 58 schreibst Du zur zweiten Etappe, daß in ihr die Tageskämpfe der Arbeiterklasse und die konkreten Teilforderungen »immer stärker mit politischen Forderungen verknüpft werden«. Damit erweckst Du den Eindruck, als würde in keiner Etappe ein selbständiger politischer Kampf geführt werden und als wäre die gesamte Arbeit auf den rein ökonomischen Kampf beschränkt. Tatsächlich kommt es aber nach Genosse Thälmann darauf an, beide Kämpfe, sowohl politische als auch ökonomische, während jeder Periode zu führen. Wir verweisen in dieser Frage auch auf die Schriften »Was tun?«, »Staat und Revolution« sowie »Die Aufgaben der russischen Sozialdemokraten« von Lenin.
Doch nun zu Deinem Brief:
1. Du schreibst: »Durch den ideologischen Kampf werden die Grundsätze des Marxismus-Leninismus, das heißt die Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus, propagiert.«
Hinter diesem Satz stehen wir hundertprozentig, aber wir sind der Auffassung, daß gerade dies von der Roten Fahne (abgesehen von den großartigen Beilagen zur September- und Oktobernummer) und vom Rebell nur sehr mangelhaft geleistet wird, obwohl es nach Lenin ihre Aufgabe wäre. Vor allen Dingen läßt die Kritik an den Linkssektierern sehr zu wünschen übrig.
2. Du schreibst: »Daß man mit abstrakten politischen Losungen, losgelöst von den wirtschaftlichen Interessen der Arbeiterklasse und dem politischen Niveau der Massen, nichts ausrichten kann, weil es nicht verstanden wird.«
a) Lenin spricht in Deinem Zitat von zwei Arten der Agitation, der politischen und der ökonomischen. In »Was tun?« sagt er, daß politische Agitation nicht nur auf ökonomischem Boden geführt werden darf, sondern daß dies eine Einschränkung der Arbeit der Kommunisten bedeutet und letztlich ökonomistisch ist.
b) Der KAB(ML) betreibt politische Agitation, wie wir sie im Augenblick für berechtigt, wenn auch für quantitativ etwas zu gering halten. So zum Beispiel: antifaschistischer Kampf, antiimperialistisch-antimilitaristischer Kampf, Aktion §218. Ein solcher Kampf wäre zum Beispiel auch ein Kampf gegen die Notstandsgesetze gewesen oder, im Rahmen des antiimperialistischen Kampfs, ein Kampf gegen die EWG-Mitgliedschaft der BRD.
c) Was wir eigentlich gemeint haben, war folgendes. Im Revolutionären Weg 6 hättest Du klar aussagen müssen, daß in der ersten Periode (dazu später Punkt 9) auch ein selbständiger politischer Kampf geführt werden muß.
3. Die Avantgarde: Wir meinten die fortgeschrittensten Teile der Arbeiterklasse. Die Aust-Gruppe spricht übrigens von Schmiedung der Avantgarde, nicht Gewinnung.
4. »Wer also nur einen Kampf um Reformen …« Du meinst doch damit zweifelsohne, daß man einen ökonomischen und unbegrenzt politischen Kampf, also nicht begrenzt durch den Rahmen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, führen soll? (Wir stimmen dem völlig zu, wollen nur sichergehen, Dich richtig verstanden zu haben, zumal Du im Revolutionären Weg 6 den Eindruck erweckt hast, als wenn in der ersten »Etappe« überhaupt kein selbständiger politischer Kampf geführt wird.
5. »Bei passender Gelegenheit jedoch muß das strategische Ziel in Verbindung mit den ökonomischen und politischen Fragen klar aufgezeigt werden.«
a) Stimmst Du uns zu, daß auch Tarifkämpfe – oder allgemein: größere Kämpfe der Arbeiterklasse von allgemeinem Interesse – eine solche Gelegenheit zur konkreten Vermittlung der Diktatur des Proletariats darstellen?
b) Wenn ja, so mußt Du zugeben, daß dies vom Zentralorgan nicht geleistet wird.
6. »Solange keine revolutionäre Situation da ist …«
a) Tritt der Kampf um Reformen quantitativ oder qualitativ in den Vordergrund?
b) Gerade die Verbreitung der Propagandalosungen mit sozialistischem Gedankengut wird vom KAB(ML) nur sehr mangelhaft betrieben.
7. Deine Definition des Rechtsopportunismus muß erweitert werden, und zwar dahingehend, daß er, nach Lenins Schrift »Staat und Revolution«, nicht propagiert:
a) die Zerschlagung des Staatsapparats,
b) die Diktatur des Proletariats.
8. Deine Stellungnahme zur Roten Garde muß spätestens seit dem »Roten Morgen« 8/71 als überholt angesehen werden.
9. Im Revolutionären Weg 6 sprichst Du von drei Etappen der deutschen Revolution. Dies ist eine falsche Bezeichnung. Stalin spricht in »Über die Grundlagen des Leninismus« von drei Etappen der russischen Revolution:
(1) Feudalismus – Kapitalismus (Selbstherrschaft – bürgerliche Demokratie)
(2) bürgerliche Demokratie – Sozialismus
(3) sozialistischer Aufbau
Wir befinden uns im Augenblick in der Etappe bürgerliche Demokratie – Sozialismus. Die von Dir beschriebenen »Etappen« sind Phasen oder Perioden. Korrigiere dies doch bitte. Vor allen Dingen erhält man den Eindruck, daß die in der ersten Etappe beschriebenen Teillosungen und Teilforderungen rein ökonomischer Natur sind. Das wäre reinster Ökonomismus.
»Zum Tätigkeitsbereich der Sozialdemokratie gehört … Agitation nicht allein auf dem Boden des täglichen Kampfes der Lohnarbeit gegen das Kapital« (5,b). »… ein Stadium des rein ökonomischen Kampfes und des Kampfes um politische Teilforderungen … lehnen wir ab.« (Lenin: »Was tun?«, Ausgewählte Werke Bd. I, S. 308)
Viele unserer Fragen mögen Dir etwas kleinlich vorkommen, aber wir fühlen eine große Verantwortung den Tausenden und Millionen von Genossen gegenüber, die ihr Leben in den Dienst unserer gemeinsamen Sache gestellt haben und hatten. Wir würden es für eine schändliche Gemeinheit halten, wenn wir dieser Verantwortung nicht gerecht würden und nicht jede, aber auch die kleinste Unklarheit völlig klären würden, um auch unser Leben dieser gerechten Sache unterordnen zu können.
Es lebe der Sieg der Diktatur des Proletariats!
Hoch lebe Marx, Engels, Lenin, Stalin und Mao Tsetung!
Ein Hoch auf den großen Vertreter der Sache des deutschen Proletariats, Genossen Ernst Thälmann!
USAG/ML ([noch] Unabhängige Sozialistische Arbeitsgemeinschaft/Marxisten-Leninisten)
Rot Front!
i. A. Otto
Liebe Genossen! 6. 11. 71
Besten Dank für Euren Brief vom 31. 10. Bedauerlicherweise ist die Entfernung zwischen uns so groß, daß wir uns nicht mündlich austauschen können. So bleiben Unklarheiten und Mißverständnisse bestehen, die durch eine Aussprache leichter behoben werden könnten. Nur eins ist mir unverständlich: Ihr macht die Vereinigung Eurer Gruppe mit der RJ(ML) gewissermaßen abhängig von der Beantwortung einer Frage, anstatt den Gesamtkomplex der ideologisch-politischen Linie des KAB(ML) und der RJ(ML) sowie der KPD/ML(RW) in seiner Gesamtrichtung zu untersuchen. Trotzdem will ich versuchen, Eure speziellen Fragen schriftlich zu beantworten.
Fangen wir mit den Etappen des Klassenkampfs (nicht der deutschen Revolution speziell, sondern allgemein – Revolutionärer Weg 6, S. 56) an. Die von Euch in Verbindung damit gebrachten drei Etappen der russischen Revolution beziehen sich speziell auf die Entwicklung der Revolution in Rußland und sind nicht übertragbar auf andere Länder (außer die Auswertung der Erfahrungen). Dabei ist Euch in der Bezeichnung der drei Etappen der russischen Revolution ein Fehler unterlaufen. Stalins Bezeichnung lautet:
1. Etappe: 1903 bis Februar 1917 ... usw.
2. Etappe: März 1917 bis Oktober 1917 … usw.
3. Etappe: Nach der Oktoberrevolution … usw.
Seht bitte nach: »Fragen des Leninismus«, Seite 72–74.
Was Ihr angebt, sind Perioden der gesellschaftlichen Entwicklung in Rußland, nicht aber speziell die Etappen der russischen Revolution.
Etappe bedeutet Teilstrecke. Eine Revolution läßt sich nicht zu jeder x-beliebigen Zeit (hier und jetzt, wie die Anarchisten sagen) durchführen, sondern hängt von der objektiven Lage und dem Reifegrad der Arbeiterklasse (objektiver und subjektiver Faktor) ab. Deshalb muß in der Entwicklung des Klassenkampfs des Proletariats jederzeit berücksichtigt werden: a) wie ist die Situation und b) inwieweit ist der subjektive Faktor ausgereift, das heißt, wie stark ist der Kampfwille und die Opferfreudigkeit der Massen, und ist eine revolutionäre Arbeiterpartei vorhanden und genügend entwickelt, um die Führung zu übernehmen. Da nun der Klassenkampf nicht gleichmäßig ansteigt, sondern im Zickzackkurs, im Auf und Ab oder, wie Stalin sagt, wie Ebbe und Flut verläuft, muß sich die Taktik des proletarischen Klassenkampfs entsprechend ändern und der jeweiligen Situation anpassen. Das wird durch die drei Etappen des Klassenkampfs gekennzeichnet, wobei natürlich Übergänge von einer Etappe zur anderen berücksichtigt werden müssen. Das gilt sowohl für das Vorwärtsschreiten zu einer höheren Etappe wie für den Rückzug zu einer niederen. So kennzeichnet Stalin zum Beispiel die Zeit von 1907–1912 als Ebbe, als Niedergang der proletarischen Bewegung und fährt fort: »Dementsprechend änderten sich sowohl die Kampfformen als auch die Organisationsformen. Anstatt des Boykotts der Duma – Teilnahme an der Duma, anstatt offener revolutionärer Aktionen außerhalb der Duma – Aktionen und Arbeit in der Duma, anstatt politischer Generalstreiks – wirtschaftliche Teilstreiks oder einfach Windstille …«
Daraus geht hervor, daß in der Zeit der Ebbe des Klassenkampfs, und das ist die erste Etappe, die Etappe ohne revolutionäre Situation, die Kräfte gesammelt werden müssen für kommende Klassenschlachten. In dieser Zeit steht die Organisation, das heißt die Auslösung und Führung von Kämpfen um ökonomische und politische Reformen, im Vordergrund (Teilforderungen). Das ist im wesentlichen ein gewerkschaftlicher Kampf und gegenwärtig die Hauptform. Dieser Kampf ist inhaltlich nicht gesellschaftsverändernd (wie die Revisionisten behaupten), sondern spielt sich im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung ab. Wer sich nur auf einen solchen Kampf beschränkt, ist Reformist. Die Aufgabe der Kommunisten in dieser Etappe ist, die Notwendigkeit des politischen Kampfs des Proletariats um die Macht zu propagieren (Propagandalosungen). Sie müssen jede Gelegenheit benutzen, die Kämpfe inhaltlich auf eine höhere Ebene, das heißt, den ökonomischen Kampf zum politischen zu heben, die Formen des Kampfs (Streiks, Demonstrationen, Kundgebungen usw.) immer höherzuentwickeln.
Lenin schreibt in »Was tun?«: »Die Aufgabe der Sozialdemokraten aber erschöpft sich nicht in der politischen Agitation auf ökonomischem Boden, ihre Aufgabe ist es, diese trade-unionistische Politik in einen sozialdemokratischen politischen Kampf umzuwandeln – die Lichtblicke politischen Bewußtseins, die der ökonomische Kampf in den Arbeitern entstehen läßt, auszunutzen, um die Arbeiter bis auf das Niveau des sozialdemokratischen politischen Bewußtseins zu heben.«
Die Hervorhebungen im Zitat »umzuwandeln«, »auszunutzen« und »heben« sind von Lenin und unterstreichen das, worauf es ankommt. In dieser ersten Etappe des proletarischen Klassenkampfs ist das Klassenbewußtsein der Arbeiter noch nicht soweit entwickelt, daß die Arbeiterklasse in der Lage wäre, den gewerkschaftlichen Rahmen des Kampfs zu durchbrechen und selbständige politische Kämpfe mit dem Ziel der Eroberung der Macht zu führen. Dazu bedarf es einer langen, zähen, systematischen Kleinarbeit der Kommunisten, die dabei jede Gelegenheit im Leben der Arbeiter ausnutzen müssen, diese von der Notwendigkeit eines solchen Kampfs zu überzeugen. Der Weg vom spontanen ökonomischen zum bewußt politischen Kampf der Arbeiterklasse ist ungeheuer steinig und schwierig. Da können wir nichts mit revolutionärer Ungeduld erreichen, die Massen müssen uns folgen können, sonst werden wir uns isolieren (wie die Linkssektierer). Das heißt auch, daß wir in unserer politischen Agitation an das Niveau der Massen anknüpfen müssen, um es dann ständig zu heben und auf das Niveau des politischen Kampfs um die Macht zu bringen. Darin liegt die Bedeutung der ersten Etappe. Ohne Lösung dieser Aufgabe ist der Übergang zur zweiten Etappe nicht möglich.
Im »Kursbuch« 25 ist ein Artikel von M. Schneider (mit dem ich nicht einverstanden bin), wo eingangs (S. 73–75) ein Bericht eines Studenten über seine Agitation in einem Betrieb steht, der interessant ist wegen den Erfahrungen, die er durch die Diskussionen mit Arbeitern hat machen müssen. Diese Erfahrungen würde jeder machen, der abstrakt an die politische Agitation herangeht. Lenin schreibt sehr treffend in »Der ›linke‹ Radikalismus« über diese erste Etappe des Klassenkampfs:
»Viel schwerer – und viel wertvoller – ist es, zu verstehen, ein Revolutionär zu sein, wenn die Bedingungen für einen direkten, offenen, wirklich revolutionären Kampf der Massen noch nicht vorhanden sind; zu verstehen, die Interessen der Revolution (propagandistisch, agitatorisch, organisatorisch) in nichtrevolutionären, oft sogar in direkt reaktionären Institutionen, in einer nichtrevolutionären Situation, unter einer Masse zu verfechten, die unfähig ist, unverzüglich die Notwendigkeit der revolutionären Aktionsmethode zu begreifen ...«
Völlig unverständlich ist mir, wie Ihr aus der Darstellung der zweiten Etappe im Revolutionären Weg schließen könnt, es »würde in keiner Etappe ein selbständiger politischer Kampf geführt werden …« Diese Etappe kennzeichnet ja gerade den selbständigen politischen Kampf der Arbeiterklasse, der um so wirkungsvoller geführt wird, wenn er mit Teilforderungen verbunden wird (»die nach wie vor eine wichtige Rolle spielen«). Die vorher dargestellten sich ausdehnenden und verschärfenden Kämpfe sind doch politische Kämpfe auf der Grundlage der vorherrschend politischen Forderungen in Verbindung mit ökonomischen. Die politischen Forderungen werden dabei immer schärfer als Übergangslosungen zum Kampf um die Macht. Der unmittelbare Kampf um die Macht, der bewaffnete Kampf, bedeutet bereits die dritte Etappe.
Wir wollen noch einmal die ersten beiden Etappen gegenüberstellen. In der ersten Etappe herrscht der Kampf um ökonomische und politische Reformen, das heißt der gewerkschaftliche Kampf, vor. Die aufgestellten Teilforderungen sind Kampfforderungen zur Durchsetzung von Tagesfragen der Arbeiterklasse. Die Agitation hat hauptsächlich den Charakter der ökonomischen und politischen Enthüllungen. Die Propaganda verbreitet Losungen über das Ziel des politischen Kampfs: Sturz der kapitalistischen Herrschaft und Errichtung der Diktatur des Proletariats. Gleichzeitig muß der Weg aufgezeigt werden, um dieses Ziel zu erreichen. In dieser Zeit der Ebbe des Klassenkampfs kann es noch nicht zu selbständigen politischen Kämpfen der Arbeiterklasse kommen, das heißt zum politischen Massenkampf um die Macht – und nicht um irgendwelche politischen Reformen oder um begrenzte politische Tagesforderungen. Es ist darum die Etappe ohne revolutionäre Situation.
Erst wenn die Kämpfe sich zu immer größeren Massenkämpfen entwickeln (Streiks, Demonstrationen, Zusammenstöße usw.), wenn die politischen Losungen und Forderungen stärker hervortreten, die Zusammenstöße mit der Staatsmacht häufiger werden und diese Kämpfe den gewerkschaftlichen Rahmen immer öfter durchbrechen und selbständig von der Arbeiterklasse geführt werden, vollzieht sich der Übergang von der ersten zur zweiten Etappe. Dann erhalten die politischen Forderungen immer mehr die Bedeutung von Übergangslosungen zum Kampf um die Macht. Darum ist diese zweite Etappe die der akut revolutionären Situation.
Wir würden Fehler begehen, wenn wir die beiden Etappen nicht auseinanderhalten, zum Beispiel politische Übergangslosungen der zweiten Etappe auf die erste anwenden. Das würde eine Isolierung der revolutionären Partei von den Massen bedeuten, darum der Hinweis der »abstrakten politischen Losungen«. Das hat nichts zu tun mit den akuten politischen Enthüllungen und Forderungen, wie Ihr sie in 2. b) aufzeigt. Das bezieht sich alles auf die konkrete politische Agitation der ersten Etappe, aber es sind keine politischen Übergangslosungen, wie sie in der zweiten Etappe aufgestellt werden müssen und die Grundlage des selbständigen politischen Kampfs der Arbeiterklasse um die Macht bilden. Umgekehrt würde es ein schwerwiegender Fehler sein, wenn man sich in der zweiten Etappe auf den Kampf um Reformen beschränken würde.
In diesem Zusammenhang bitte ich auch folgendes zu beachten. Beim Studium historischer Ereignisse (zum Beispiel die konkrete Situation, wie sie in »Was tun?« behandelt wird oder in Thäl-manns Schriften über die Lage der zwanziger Jahre in Deutschland) müssen wir klar unterscheiden zwischen den prinzipiellen Fragen, das heißt den Grundsätzen des Marxismus-Leninismus, und den historisch bedingten Fragen, das heißt Ereignissen, die an die damalige Situation gebunden sind. Die ersten sind immer von Bedeutung und haben allgemeine Gültigkeit, dagegen sind die zweiten nur für die damalige Situation gültig und nur bedingt zu verwenden. Darum warnt Lenin vor einem schematischen Übertragen einer bestimmten Situation auf eine andere (»Der ›linke‹ Radikalismus«).
Einige Fragen Eures Briefes:
Punkt 4: Es gibt zweierlei Kampf um Reformen, die sich grundsätzlich voneinander unterscheiden (siehe Stalin: »Grundlagen des Leninismus«). Der Kampf um Reformen darf nicht Selbstzweck, sondern muß Mittel zum Zweck sein, nämlich als Schule des Klassenkampfs. Dabei muß die Bedeutung auf Kampf und nicht auf Reformen gelegt werden, denn nur im Kampf sammelt die Arbeiterklasse Erfahrungen und werden Führer entwickelt. Dabei ist nicht einmal entscheidend, ob ein solcher Kampf erfolgreich ist oder nicht (das erstere wäre natürlich besser), denn auch aus jeder Niederlage lernt die Arbeiterklasse und sammelt Erfahrungen.
Die Formulierung in Eurem Brief »unbegrenzten politischen Kampf« verstehe ich nicht. Jeder ökonomische und politische Kampf ist begrenzt, auch der Kampf um die Macht. Jeder Kampf hat ein Ziel, ob örtlich oder national, ob um Reformen oder um die Macht, ob es sich um Etappenziele oder um das »Endziel« handelt. Oder meint Ihr vielleicht folgendes: Einerseits wird der Kampf um Reformen als Selbstzweck, nur zur Durchsetzung von ökonomischen und eng begrenzten politischen Forderungen im Rahmen der kapitalistischen Herrschaft, das heißt ohne das Ziel des Sturzes der kapitalistischen Herrschaft, geführt. Andererseits wird der Kampf um Reformen als Mittel zum Zweck, als Schule des Klassenkampfs geführt, das heißt, um durch Sammlung von Kampferfahrungen die Voraussetzung zur Durchsetzung von weitergehenden politischen Forderungen bis zum politischen Kampf um die Macht zu schaffen.
Punkt 5: »Passende Gelegenheit« heißt, die verschiedenen Gelegenheiten wie Streiks, Demonstrationen, Kriegsdrohung, faschistische Gefahr, Beurteilung der Thesen der DKP usw. ausnutzen, das heißt jede Gelegenheit, wo die Propagandalosungen in verständlicher Weise mit der Agitation und dem Kampf der Arbeiterklasse verbunden werden können. Wenn Ihr in dieser Hinsicht eine Kritik am Zentralorgan habt, dann legt sie bitte in konkreter Form der Redaktion vor.
Punkt 6: Warum unterscheidet Ihr zwischen »quantitativer und qualitativer« Seite des Kampfs um Reformen? Je umfangreicher der Kampf als Massenkampf (Quantität) und je höher das Klassenbewußtsein der Massen (Qualität) ist, um so eher kann der Übergang von der ersten zur zweiten Etappe möglich sein. Beides muß also zusammenfallen. Es ist Aufgabe der revolutionären Partei, das gewerkschaftliche Bewußtsein zum sozialistischen Bewußtsein zu entwickeln. Die Propaganda des sozialistischen Gedankenguts wird hauptsächlich vom theoretischen Organ (als Anleitung zur mündlichen und schriftlichen Propaganda), aber auch vom Zentralorgan neben der Hauptseite Agitation betrieben. Die Propaganda muß um so intensiver geführt werden, je näher der Übergang zur zweiten Etappe rückt.
Punkt 7: In Worten reden auch Rechtsopportunisten oft von Zerschlagung der Macht des Monopolkapitals und der Errichtung der Diktatur des Proletariats, nur wenn es um die Verwirklichung geht, bekommen sie Angst vor ihrer eigenen Courage. Aber meist, da habt Ihr Recht, reden sie nicht einmal davon.
Punkt 8: Ihr meint wohl »Rote Betriebsgruppen« (nicht Rote Garde). Das Aust-Zentralkomitee hat den Gedanken der Schaffung eigener Gewerkschaften nicht aufgegeben, sondern nur aufgeschoben.
Nun zu Eurer Schlußbemerkung. Mir kommen Eure Fragen nicht »kleinlich« vor, denn es handelt sich um wichtige Fragen. Nur habe ich den Eindruck, daß Ihr etwas haarspalterisch an die Fragen herangeht. Nehmt es mir nicht übel, aber ich halte es mit Lenins Prinzip »Das Kriterium der Wahrheit ist die Praxis«. Ich kenne nicht die Praxis Eurer Gruppe, aber ich habe aufgrund der Behandlung der Fragen in Eurem Brief den Eindruck, daß es hier hapert. Eine systematische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit hätte meines Erachtens manche Fragen von selbst beantwortet. Ich würde mich freuen, wenn Ihr mir hierüber berichten würdet. In der Frage Eures Anschlusses an die RJ(ML) berücksichtigt, daß der Aufbau einer revolutionären Organisation nicht glatt vonstatten geht, sondern mit Schwierigkeiten und Fehlern verbunden ist. Was den Revolutionären Weg anbetrifft, so sollen die einzelnen Nummern nicht zu umfangreich sein, sondern in kurzer konkreter Form erscheinen. Die einzelnen Themen bilden im Zusammenhang ein ganzes System. Dadurch mag eine bestimmte Frage in einer Nummer zu kurz kommen, weil sie in späteren Ausgaben ausführlich behandelt wird. Darum ist auch die Darstellung der drei Etappen des Klassenkampfs nur kurz zur Kennzeichnung gestreift.
Rot Front!
Willi