Willi Dickhut

Willi Dickhut

Theorie und Praxis

Grundsätzliche Briefwechsel und Dokumente Willi Dickhuts 1974

Von RW-Redaktion
Theorie und Praxis

Sehr geehrter Herr Dickhut! 16. 7. 74

Ich habe gerade den Revolutionären Weg 6/71 gelesen über »Die dialektische Methode in der Arbeiterbewegung«. Ich wende mich an Sie, da Sie als Verantwortlicher gezeichnet haben und ich annehme, daß Sie der Verfasser der, meiner Meinung nach, sehr guten Broschüre sind.

Zwar bin ich Mitglied im Kommunistischen Bund Westdeutschland, doch das kann mich nicht hindern, Ihnen einige Fragen zu stellen, die mir unklar sind. Im Gegenteil, ich möchte behaupten, das spricht für die Erziehung durch meine Organisation. Doch Schluß jetzt mit dem »Organisationsstreit«!

Bei meiner Tätigkeit als Briefträgerin arbeite ich mit einem Kollegen zusammen (auch politisch), der sehr begeistert ist von der obengenannten Broschüre und sie mir gleich geschenkt hat, wahrscheinlich, um mich für den KABD zu gewinnen, mit dem er schon lange sympathisiert. Diese Broschüre hat ihn sehr beeindruckt, und sie wirkt sich auch schon auf seine Praxis aus. Doch leider, was bestimmt nicht die Absicht der Broschüre war, meint er nun, man könne nichts machen, weitheoretisches-organ-revolutionaerer-wegl die Arbeiterklasse noch keinen Kampfwillen hat.

Er führt dann immer einige Beispiele aus dem Buch an. Ich muß für mich sagen, und ich kenne diesen jungen Genossen schon länger, daß sie im Grunde, so gut die Broschüre auch sein mag, für ihn schädlich war, da er jetzt des öfteren unbewußt als »Hemmschuh« bei »Planungen« auftritt. Ich finde, und das möchte ich ausdrücklich betonen, nicht Ihre Broschüre schädlich für die kommunistische Bewegung, im Gegenteil, doch ich meine, die Auswirkungen auf junge unerfahrene Genossen sind nicht in Ihrem Interesse, denn sie führen zu Resignation.

Mich interessiert nun folgendes, und ich bitte Sie, mir bald auf meine Anfrage zu antworten, was war der Zweck Ihrer Broschüre?

Bitte antworten Sie mir bald, da es wichtig für den Einfluß der Kommunisten im Postamt ist. Und mir in diesem Falle die Praxis so wichtig ist, daß ich nicht auf eine theoretische Abhandlung im Revolutionären Weg warten kann, so wichtig sie auch sein mag.

Mit kommunistischem Gruß
St.

Liebe Genossin St.! 19. 7. 74

Erhielt heute mit bestem Dank Ihren Brief und will ihn gleich beantworten, obwohl ich sehr wenig Zeit habe.

»Was ist der Zweck der Broschüre?«

Da die Weltanschauung der Kommunisten der dialektische und historische Materialismus ist, kann niemand ein wirklicher Kommunist sein, der nicht von dieser Weltanschauung durchdrungen ist, sie beherrscht und verbreitet. Wer von dieser Weltanschauung abweicht, sie verwischt, entstellt oder sogar ins Gegenteil verdreht, der ist ein Revisionist. Wer sie als starres Dogma betrachtet, sie nicht den neuen Bedingungen in der Entwicklung der Gesellschaft entsprechend schöpferisch anwendet und weiterentwickelt, ist ein Dogmatiker. Das ist kurz gesagt die Bedeutung der Theorie des Marxismus-Leninismus.

Die dialektische Methode betrachtet die Bewegungen in Natur und Gesellschaft als Prozesse und nicht als fertige Dinge und Erscheinungen, die ein für allemal gegeben wären, starr, ohne Bewegung und Entwicklung. Die dialektische Analyse untersucht möglichst alle Seiten und Zusammenhänge einer Erscheinung, besonders die in der menschlichen Gesellschaft, die voller Widersprüche steckt und sich in ständiger Bewegung befindet. Wer Kommunist werden will, muß sich die dialektische Methode gründlich aneignen und sie ständig anwenden, denn nur so kann eine richtige kommunistische Praxis durchgeführt werden. Eine Praxis ohne Anwendung der dialektischen Methode ist blind, denn sie ist von der Theorie losgelöst.

Nur die dialektische Methode ermöglicht die Herstellung einer dialektischen Einheit von Theorie und Praxis. Gewiß kann ein Arbeiter auch ohne sie klassenmäßig richtig handeln (auch ein blindes Huhn findet ein Korn), das heißt, er handelt instinktiv klassenmäßig richtig, aber dieses spontane Handeln ist weder strategisch noch taktisch richtig ausgerichtet. Nur die dialektische Methode ermöglicht eine klare Ausrichtung auf die Notwendigkeiten der Praxis, vermeidet Fehler und befähigt zur Führung in der Arbeiterbewegung. Wenn dennoch Fehler gemacht werden, dann deshalb, weil die dialektische Methode nicht allseitig und bis in die Tiefe angewandt wurde. Darum ist die dialektische Methode die Grundlage einer richtigen kommunistischen Praxis.

Quintessenz:
Marxist-Leninist ist, wer die Weltanschauung des dialektischen und historischen Materialismus anerkennt!

Marxist-Leninist ist, wer in der Praxis die dialektische Methode zu meistern versteht!
Kommunist ist, wer sich bemüht, beides anzueignen und anzuwenden!

Ich schicke Ihnen die letzten Nummern des Revolutionären Wegs 11 und 12. Da ich Rentner bin und selbst mein eigenes Exemplar bezahle, bitte ich Sie, mir den Betrag von 5,00 DM in Briefmarken zu übermitteln. Sie werden beim Studium der Betriebs- und Gewerkschaftsfragen die dialektische Methode in der Behandlung der Probleme besser verstehen. Es ist hier auch eine Kritik an den »Leitsätzen der Arbeit in den Gewerkschaften« des Kommunistischen Bunds Westdeutschland und an W. Maiers Thesen enthalten. Kurz nach Erscheinen des Revolutionären Wegs 11 und 12 hat J. Schmierer in der »Kommunistischen Volkszeitung« und in »Kommunismus und Klassenkampf« W. Maier politisch angegriffen und ihn als Rechtsopportunisten bezeichnet.

Die im Revolutionären Weg 11 und 12 enthaltenen Lehren sind nicht nur durch theoretische Erkenntnisse zustande gekommen, sondern fußen auf jahrzehntelanger Betriebs- und Gewerkschaftspraxis. Wenn Ihr Kollege aus dem Revolutionären Weg 6 die Schlußfolgerung gezogen hat, man könne heute nichts machen, dann hat er leider die dialektische Methode noch nicht verstanden, denn sie sollte gerade das Umgekehrte erreichen und die Praxis besser gestalten. Ich empfehle ihm, er soll den Dingen noch mehr auf den Grund gehen, dazu können die anderen Nummern des Revolutionären Wegs beitragen. Jede einzelne Nummer enthält ein bestimmtes Thema, aber alle zusammen bedeuten ein ganzesSystem, das heißt, sie sind nicht voneinander zu trennen. Die einzelnen Nummern haben folgende Bedeutung:

RW l und 2 setzen sich mit dem Revisionismus auseinander, um die Notwendigkeit der Schaffung einer revolutionären Partei zu begründen.

RW 3 setzt sich mit dem kleinbürgerlichen Revolutionarismus der Studenten auseinander, die im Begriff waren, die junge marxistisch-leninistische Bewegung zu überwuchern.

RW 4 und 5 behandeln die ersten zwei Spaltungen und die ultralinke Linie der KPD/ML (»Roter Morgen«) und KPD/ML (»Rote Fahne«), die ich persönlich erlebt habe.

RW 6 Den ganzen Verwirrungen mußte die dialektische Methode entgegengesetzt werden.

RW 7–9 setzen sich mit dem Sozialimperialismus der Sowjetrevisionisten auseinander und weisen anhand amtlichen sowjetischen Materials die Entartung der Bürokratie, die Restauration des Kapitalismus und die Methoden des Sozialimperialismus nach.

RW 10 behandelt einige Grundfragen des Parteiaufbaus.

RW 11 und 12 enthalten entscheidende Richtlinien der Betriebsund Gewerkschaftsarbeit und nehmen kritisch Stellung zu den falschen Auffassungen anderer Gruppen und Parteien.

Weitere grundsätzliche Themen sind in Vorbereitung. Es wäre ganz vernünftig, wenn Sie sich mit diesen theoretischen Problemen unserer Zeit befassen würden. Ich studiere auch das Material des Kommunistischen Bunds Westdeutschland und nehme dazu Stellung.

Ich hoffe, Ihnen hiermit gedient zu haben, und bitte Sie, mir das Ergebnis Ihrer Diskussion mit Ihrem Kollegen mitzuteilen. Sollten Sie noch weitere Fragen haben, bin ich gern bereit, sie zu beantworten, aber berücksichtigen Sie bitte, daß das nicht immer umgehend erfolgen kann. Grüßen Sie Ihren Kollegen, und bestellen Sie, er solle nur nicht den Mut verlieren, ich habe schon 50 Jahre Kampf hinter mir und habe selbst in den schwersten Stunden des faschistischen Terrors nie den Mut verloren. Wir dürfen nur keine revolutionäre Ungeduld an den Tag legen, sondern müssen zäh und systematisch unentwegt Kleinarbeit leisten, denn aus dem Kleinen kommt das Große.

Mit freundlichen Grüßen
W. Dickhut