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Gegenwind: »Ohne Scheuklappen sieht man besser«
»Warum das freie Denken wiederbelebt und verbreitet werden muss«. Aus der Zeitschrift »Gegenwind«, Schleswig-Holstein in ihrer Ausgabe vom Dezember 2024 zum Buch »Die Krise der bürgerlichen Gesellschaftswissenschaften, der Religion und der Kultur«
Leben wir wirklich im besten aller Systeme, einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung mit sozialer Marktwirtschaft, wie man uns erzählt? In einem System, das trotz zunehmender Krisenhaftigkeit alternativlos ist und das man gar nicht erst zu hinterfragen braucht? Oder handelt es sich dabei um Lebenslügen einer bürgerlichen Ideologie, die zwecks Legitimation der bestehenden Ordnung mühsam zu verschleiern bemüht ist, dass das kapitalistische System gesetzmäßig in immer heftigere und sich gegenseitig durchdringende Krisen hineingerät, die letztendlich sogar die Existenz der Menschheit aufs Spiel setzen?
Das sind grundsätzliche Fragen, die man sich beim Lesen des neuesten Werkes »Die Krise der bürgerlichen Gesellschaftswissenschaften, der Religion und der Kultur« des Autorenduos Stefan Engel und Monika Gärtner-Engel stellt. Es ist bereits der vierte Teil eine Auseinandersetzung mit der in der Gesellschaft vorherrschenden bürgerlichen Ideologie und schließt deren Analyse ab.
In der Einleitung wird die heutige Weltlage wie folgt qualifiziert: »Der Eintritt in die globale Umweltkatastrophe, die akute Gefahr eines atomaren Dritten Weltkriegs in Wechselwirkung mit einer wachsenden internationalen Tendenz zum Faschismus haben die Menschheit in eine latente Existenzkrise gestürzt. Die Destruktivkräfte des Imperialismus und ihre weltanschaulichen Ausprägungen treten immer abstoßender in Erscheinung.«
Die bürgerlichen Gesellschaftswissenschaften, die Religion und die Kultur haben die Aufgabe Antworten auf die vielfältigen Krisen zu geben, sind aber mittlerweile selbst in eine tiefe Krise geraten, weil sie immer mehr in Widerspruch mit der Realität der kapitalistischen Gesellschaftsordnung geraten sind. Die Autoren entlarven im Buch, dass die bürgerlichen Gesellschaftswissenschaften, die Religion und die Kultur absolut nicht »ideologiefrei« sind, sondern die bürgerliche Weltanschauung verbreiten.
Um die Menschen an die bestehende Ordnung zu binden und den Blick auf Alternativen zu verstellen, fördern die Herrschenden verstärkt Religionen sowie Anthroposophie und Esoterik.
Die bürgerlichen Gesellschaftswissenschaften dienen vordergründig nicht der Wahrheitsfindung oder der Abbildung der Realität, sondern sollen laut deren Autoren »den unterdrückten Massen die bürgerliche Gesellschaft nahebringen, sie auf ihre Verhaltensregeln ausrichten und kritischen Geistern illusionäre Irrwege weisen.
Sie geben vor, gesellschaftliche Probleme von demokratischen Werten geleitet zu ergründen und zu lösen. Tatsächlich sind sie heute im Wesen Pseudowissenschaften mit der hauptsächlichen Aufgabe, das imperialistische Weltsystem schönzureden und die öffentliche Meinung antikommunistisch zu beeinflussen«. In dem Buch werden die Wirtschaftswissenschaften, die Agrarwissenschaften, die Geschichtsschreibung, die Pädagogik, die Soziologie und die Rechtswissenschaften behandelt.
Die Autoren kritisieren den immer dekadenter werdenden bürgerlichen Kulturbetrieb, der besonders auf die Gefühle des Menschen zielt. Negativismus, individuelle Selbstverwirklichung, Karrierismus, Egoismus, Nationalismus und die Idealisierung der bürgerlichen Staats- und Familienverhältnisse werden durch die bürgerliche Massenkultur gezielt erzeugt und verstärkt. In dem Buch wird die Sprache, die Musik, die bildende und darstellende Kunst, der Sport und die angeblich »freie Medien« untersucht. Zugleich plädieren die Autoren dafür, dass es alles wertvolle und fortschrittliche der menschlichen Kultur zu verteidigen gilt.
Um den Wunsch der Massen nach Klarheit und Perspektive zu befriedigen, setzen die Autoren darauf das freie Denken des wissenschaftlichen Sozialismus wiederzubeleben und zu fördern. Der wissenschaftliche Sozialismus ist keine Pseudowissenschaft, sondern geht von der Wirklichkeit aus, statt sie zu verschleiern. Er redet nicht schön, sondern macht deutlich, dass wir in einer Klassengesellschaft leben. Dazu müssen die Menschen mit der Staatsreligion des Antikommunismus fertig werden, der der eigentliche Kern der bürgerlichen Ideologie ist, eine Art Scheuklappe, die dafür sorgen soll, dass man sich nur innerhalb des kapitalistischen Rahmens bewegen soll. Das beinhaltet natürlich auch, dass man Klarheit darüber gewinnt, was in den ehemals sozialistischen Staaten geschah. Dort ist nicht der wissenschaftliche Sozialismus gescheitert, sondern die Abkehr von ihm. Es entstand dort nach anfänglichen großen Erfolgen im Aufbau eine neue Bourgeoisie im Staats-, Partei- und Wirtschaftsapparat, der nach Absicherung ihrer Macht, höheren Positionen, immer mehr Privilegien und Ausschaltung der Kontrolle strebte bei Beibehaltung sozialistisch klingender Phrasendrescherei. Dazu wurden auch die wissenschaftlichen Grundlagen verfälscht, um das Entstehen einer neuen Bourgeoisie und die Einführung kapitalistischer Prinzipien zu vertuschen. Fakten, von denen man in der bürgerlichen Geschichtsschreibung nie gehört.
Das Buch hat mich begeistert und hält eine reichhaltige Fülle an Informationen und Argumenten. Es ist spannend, optimistisch und hat eine befreiende Wirkung. Es ist lebensnah, allgemeinverständlich geschrieben, ohne auf notwendige wissenschaftliche Begriffe zu verzichten. Es hat auch eine geeignete Polemik und Angriffslust gegenüber den herrschenden Zuständen. Ich kann es jedem empfehlen, der offen ist für alternative Ideen und Gedanken und noch nicht völlig verblendet ist vom Antikommunismus.
Sehr bemerkenswert ist auch, dass an dem Buch insgesamt 140 Mitwirkenden unter Anleitung und Schriftleitung von Stefan Engel und Monika Gärtner-Engel beteiligt waren, darunter Arbeiter und Arbeiterinnen bis hin zu Fachleuten aus den jeweiligen Wissenschaftsbereichen. Man kann es getrost als kollektive Glanzleistung bezeichnen.