Stefan Engel

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Naturheilkunde nicht einfach in Bausch und Bogen verdammen! - Eine dialektisch-materialistische Beurteilung

Ein Brief von Stefan Engel, Leiter der Redaktion REVOLUTIONÄRER WEG an einen Mitarbeiter aus Essen zu einem Brief rund um die Beurteilung der Naturheilkunde und der jahrhundertealten Erfahrungen damit.

Von RW-Redaktion

Stefan Engel, Leiter der Redaktion REVOLUTIONÄRER WEG

15.11.2022


an einen Mitarbeiter der RW-Redaktion aus Essen


Lieber Genosse,

vielen Dank für deine Überlegungen zum Abschnitt »Das grundlegende Dilemma der bürgerlichen Medizin« im Revolutionären Weg Nr. 38. Wir konnten mithilfe der Zitate und Quellen, die du abgegeben hast, den Abschnitt verbessern. Ich will dir aber zu deinen prinzipiellen Widersprüchen in der Einschätzung der alternativen Medizin schreiben.

Du schreibst: »Andererseits heißt es auf Seite 14 (des Abschnitts): Selbstverständlich können auch empirische Erfahrungswerte zum Beispiel jahrtausendealter naturheilkundlicher Erfahrungen nicht einfach beiseite gewischt werden, weil sie noch nicht wissenschaftlich erforscht oder in die Schulmedizin aufgenommen wurden. Das ist zu einfach. So argumentieren auch immer wieder die Verfechter der Homöopathie und anderer Alternativsysteme. Die jahrtausendealten Erfahrungen wurden ja auf idealistischer Grundlage gewonnen. Die zahlreichen überlieferten Erfahrungen kann man nicht von dieser Grundlage trennen.« (Brief vom 4.8.2022, S. 8)

Damit unterstellst du aber den Massen nur auf Grundlage des Idealismus ihre konkreten Erlebnisse mit der Naturheilkunde zu verarbeiten. Das ist doch reichlich skeptizistisch gegenüber den Massen und überheblich gegenüber ihren Erfahrungen! Die Verarbeitung der sinnlichen Erkenntnisse zu rationalen Kenntnissen ist Gegenstand des Kampfs um die Denkweise und Ausdruck des Kampfs zwischen bürgerlicher und proletarischer Ideologie. In allen Wissenschaftsbereichen wurden zunächst die jahrhundertealten Erfahrungen gesammelt, gesondert und ausgewertet, und zumindest zur Zeit der Entstehung der bürgerlichen Naturwissenschaft auf einen dialektisch-materialistischen Boden gestellt. Der Marxismus selbst entstand nur, weil Marx und Engels aus den Erkenntnissen der bürgerlichen Ökonomen und Soziologen, und den praktischen Erfahrungen der Massen alles erhaltenswerte schöpften, höherentwickelten und alles idealistische, metaphysische und reaktionäre zurückwiesen. Mit einer Grundhaltung wie deiner hätten sie das nie geschafft.

Bei der Untersuchung der alternativen Medizin oder Naturheilkunde muss strikt Spreu von Weizen unterschieden werden, in dem man vom dialektischen Materialismus ausgeht. Die Homöopathie basiert neben ihrer völlig religiös-idealistischen Ideologie – die wir im Abschnitt auch entsprechend attackieren - auf der Gabe von kaum-existenten Kleinstmengen ihrer Wirkstoffe. Dass diese Zuckerkügelchen tatsächlich höchstens durch den Placebo-Effekt eine Wirkung entfalten können, kannst du nicht mit den Methoden der Akupunktur gleichsetzen, die erwiesenermaßen und wie du selbst einräumst, auf den Körper wirken. Nehmen wir zum Beispiel die Studie von 2004, die an 200.000 Patienten durchgeführt wurde, auf die du dich auch beziehst. Die Studie ergab eindeutig, dass eine Akupunkturbehandlung den Zustand der Patienten deutlich verbesserte: bei Arthroseschmerzen (85 Prozent), Asthma/allergischer Rhinitis (82 Prozent) und Dysmenorrhö (85 Prozent), Kopfschmerzen (75 Prozent), Lumbalsyndrom (75 Prozent). Diese Wirkung hielt bis zu 6 Monate an. Im Artikel im Ärzteblatt zu der Studie heißt es : »Überraschenderweise fand sich ein signifikanter Unterschied zwischen der Nadelung von Akupunktur- und Nicht- Akupunkturpunkten jedoch nur bei Arthroseschmerzen.« (Deutsches Ärzteblatt, Jg. 101, Heft 5, 30. Januar 2004)

Die Studie offenbarte, dass die idealistisch geprägte Theorie, nach der die Akupunkturpunkte bisher bestimmt wurden, nicht oder nur teilweise stimmt. Gleichzeitig erwies sie, dass die Methode der Nadelung an sich wirkungsvoll und relativ nebenwirkungsfrei ist. Du schlussfolgert jedoch, dass die Studie nur auf einen Placebo-Effekt aufgrund einer mangelnden Doppelverblindung, da der behandelnde Arzt immer weiß, ob er die »richtigen« oder »willkürliche« Punkte nadelt, der Studie hinweisen würde. Damit gehst du selbst der künstlichen Polarisierung zwischen Schulmedizin und alternativer Medizin auf den Leim. Seit wann ist denn die Doppelverblindung unser Bewertungskriterium? Deren Theorie besagt ja, dass Patienten die wissen, dass sie die »richtige« Behandlung bekommen, ihren Gesundheitszustand subjektivistisch positiver beurteilen, als Patienten, die nicht wissen, welche Behandlung sie erfahren. Aber damit kannst du doch nicht eine um 75-85 % verbesserte gesundheitliche Lage von 200.000 Patienten, die zum Teil unter ernsthaften Schmerzen litten, wegdiskutieren. Deine Argumentation überrascht auch, weil du auf Seite 1 deines Briefs selbst schreibst: »Sehr wichtig und überzeugend finde ich die Auseinandersetzung mit der evidenzbasierten Medizin (EBM) und ihrem Goldstandard der doppelblinden klinischen Studien«

Deine Argumentation entspricht vielmehr den von dir abgegebenen Quellen. Das Buch von Singh/Ernst »Gesund ohne Pillen« fällt aber durch einen ausgeprägten Antikommunismus auf. So heißt es darin: »der Vorsitzende Mao Zedong bewirkte eine Wiederbelebung der traditionellen chinesischen Medizin, zu der nicht nur die Akupunktur gehörte, sondern auch Kräutermedizin und andere Heilverfahren. … Mao war es gleichgültig, ob die traditionelle chinesische Medizin funktionierte, solange er die Massen zufriedenstellen konnte(S. 65) und auf Seite 69: »die amerikanischen Ärzte, die China in den frühen siebziger Jahren (also wohl gemerkt zu Zeiten des Sozialismus!) besuchten, waren es nicht gewohnt, getäuscht oder politisch manipuliert zu werden, daher dauerte es einige Jahre, bis ihre naive Begeisterung für die Akupunktur von Zweifeln abgelöst wurde.« Singh und Ernst behaupten, dass die Vorzeigeoperationen der Chinesen, bei denen allein Akupunktur zur Narkose genutzt wurde, wahrscheinlich ein Schwindel waren. Dabei unterscheiden sie nicht zwischen der Zeit des sozialistischen Aufbaus und der Zeit des chinesischen Neuimperialismus, dem offenbar 2006 tatsächlich solche Fake-Operationen nachzuweisen sind.

In deinem Brief findet sich das in folgender Formulierung wieder: »Die heutige Rolle der Akupunktur im Westen nahm 1971 ihren Anfang, durch den Artikel eines US Reporters in der New York Times ...Verstärkt wurde das durch spektakuläre Operationen am offenen Herzen bei denen die Patienten angeblich nur durch ein paar Akupunkturnadeln Schmerz unempfindlich gemacht wurden. Einzelne solcher OPs wurden später als Fake entlarvt.« Auch bei dir keinerlei Unterscheidung zwischen sozialistischer und imperialistischer Zeit.

Simon Singh ist übrigens selbst Physiker und hat ein »erfolgreiches« Buch über den Urknall veröffentlicht, womit er diese idealistische Theorie unter die Massen trägt. Warum befasst Du dich unkritisch ausschließlich mit solchen Quellen, statt einmal in der Peking Rundschau oder der Willi Dickhut Bücherei nach den proletarischen Studien zur Akupunktur zu suchen? Es gibt auch materialistische Theorien zur Akupunktur – auch wenn diese noch recht vage sind.

Aber auch das hältst du nicht für nötig, sondern kommst zu dem vernichtenden Urteil: »Es ist ein sinn- und aussichtsloses Unterfangen, der Akupunktur als System im Nachhinein ein wissenschaftliches Kleid über zu ziehen«.

In gleichem Atemzug erklärst du auch die Ohrakupunktur, Fußreflexzonenmassage oder Akkupressur für Humbug. Ich praktiziere selbst erfolgreich die Ohrakupressur und hab damit schon manche schmerzhaften Muskelblockaden im Rücken auf Auslandsreisen ohne Arzt aufgelöst – ist das auch eine auf »idealistischer Grundlage gewonnene Erfahrung«?

Du kritisierst die Formulierung auf Seite 15 des Abschnitts: »inzwischen gut erforscht ist auch die Akupunktur«. Diese Formulierung ist tatsächlich zu weitgehend, denn bis heute kann die Wirkung der Akupunktur bei bestimmten Leiden zwar nachgewiesen aber abgesehen von vagen Thesen nicht erklärt werden. Wir haben die Passage entsprechend geändert.

(...)


Herzliche Grüße,

Stefan