Hintergrundgespräche Teil 2
Machtwechsel in Syrien Sturz des Assad-Regimes – Tag der Befreiung?
Hintergrundgespräch von Celina Jacobs (Rote-Fahne-TV) mit Stefan Engel zum Machtwechsel in Syrien. Hintergrundgespräch Teil 2
Celina Jacobs (Rote-Fahne-TV): Hallo liebe Zuschauerinnen und Zuschauer von Rote-Fahne-TV. Wir begrüßen euch heute mit einem neuen Format. Neben mir sitzt Stefan Engel. Er ist Mitglied des Zentralkomitees der MLPD und Leiter der Redaktion REVOLUTIONÄRER WEG. Wir haben uns heute zu einem Hintergrundgespräch getroffen. Wir wollen über die Hintergründe von aktuellen Themen sprechen, und heute geht es um den Machtwechsel in Syrien. Deswegen will ich auch direkt anfangen mit der ersten Frage: Stefan, wie kam das jetzt so schnell und in der Form zu diesem Machtwechsel in Syrien?
Stefan Engel: Dazu gehören innere und äußere Bedingungen. Die innere Bedingung für den Machtwechsel war, dass die faschistische syrische Gesellschaft wirtschaftlich und politisch total zerrüttet war und die breiten Massen keinerlei Unterstützung mehr für dieses Assad-Regime aufbrachten. Unter der Bedingung ist es natürlich schwierig, ein Regime von außen weiter zu unterstützen. Eigentlich ist diese tiefe Krise seit 2015, seither ist dieses Regime am wackeln. Es wurde irgendwie nur aufrechterhalten, weil ausländische Truppen das Assad-Regime gestützt haben. Vor allem aus dem Iran und aus Russland. Jetzt sind Russland und der Iran in der letzten Zeit andersweilig beschäftigt. Der Iran steht in einer heißen Auseinandersetzung mit Israel. Russland ist so eingebunden im Ukraine-Krieg, dass es momentan kaum militärische Kräfte freimachen konnte, um weiterhin das Assad-Regime in der bisherigen Form zu unterstützen. Der Wegfall dieser Unterstützung von außen war eine wesentliche Bedingung dafür, den Weg frei zu machen für einen solchen Machtwechsel.
Wichtig war dann natürlich auch noch, dass es eine Gruppierung gab wie die HTS-Miliz unter Führung von al-Dscholani, die es schaffte, die verschiedenen Oppositionskräfte und Rebellengruppen im Kampf zum Sturz des Assad-Regime zusammenzuschließen. Es gibt ja seit längerem überall versprengte kleine lokale Gruppen. Es gibt die verschiedensten Rebellenorganisationen und er schaffte es tatsächlich, sie zusammenzuführen. Das war die entscheidende Bedingung dafür, dass das Assad-Regime fluchtartig „den Löffel abgegeben“ hat.
Celina Jacobs (Rote-Fahne-TV): Das heißt, das war jetzt keineswegs ein zufälliger Zeitpunkt. 2011 war ja im Zusammenhang mit dem Arabischen Frühling ein Bürgerkrieg in Syrien entstanden, der dann vom Assad-Regime brutal niedergeschlagen wurde. Ist dieser Machtwechsel jetzt ein Sieg dieses Bürgerkriegs?
Stefan Engel: Das kann man so direkt nicht sagen. Eigentlich sind diese demokratischen Kräfte außer der kurdischen PYD ziemlich ins Ausland verdrängt worden, wurden in Gefängnisse gesteckt, ermordet, gefoltert. Das heißt, diese demokratische Volksbewegung wurde weitgehend ausgeschaltet.
Was wir jetzt erleben, ist, dass verschiedene Gruppen als Art Stellvertreter ausländischer Mächte um die Vorherrschaft in Syrien gekämpft haben: Einerseits der Islamische Staat, dann die Hisbollah. Da sind der Islamische Staat, die sunnitischen Kräfte mehr als Stellvertreter der Türkei und von Katar, die Hisbollah mehr von schiitischen Kräften, vom Iran. Dann auch Al Nusra, Al Kaida, der Islamische Dschihad usw. Es sind also verschiedenste Gruppen tätig, die alle irgendwelche ausländischen Mächte repräsentieren. Diese Gruppen sind ja nicht in der Lage, sich von sich aus so stark zu bewaffnen und eine Macht auszuüben. Hinzu kommt, dass Russland das Assad-Regime gestärkt und massiv militärisch eingegriffen hat, mit Bombardements, mit militärischen Kräften, mit Militärberatern, mit Waffen. Auf der anderen Seite haben sich auch die USA eingemischt unter der Vorgabe, den Islamischen Staat zu bekämpfen. Sie unterstützte zeitweise auch die kurdische PYD, um den Islamischen Staat zu schwächen.
Dieser Stellvertreterkrieg der verschiedensten Gruppen hat offensichtlich den Bürgerkrieg um ein demokratisches Syrien abgelöst, und wir haben jetzt den Höhepunkt dieser Entwicklung erlebt. Die Hauptverlierer in diesem Machtwechsel sind deshalb nicht nur das Assad-Regime, sondern auch Russland als die wichtigste Macht im Hintergrund des Assad-Regimes und auch der Iran als wichtigster direkter Verbündeter. Ob die USA daraus Vorteile ziehen können, ist noch nicht richtig klar. Alle versuchen jetzt, mit der neuen Macht ins Gespräch zu kommen. Eine wichtige Rolle spielt auch Israel, das seit Jahrzehnten die Golan-Höhen besetzt. Israel hat auch immer wieder militärisch Syrien angegriffen und versucht jetzt, Einfluss auf die neue Entwicklung zu nehmen. Es ist wahrscheinlich die einzige ausländische Macht, die momentan mit Angriffen, mit Bombardements und Truppen vom Süden her angreift und versucht, Druck auszuüben.
Al-Dscholani hat allerdings erklärt, dass sie keinen Krieg wollen und dass die Leute auch kriegsmüde sind. Es wird sich noch zeigen, wie sich das jetzt weiterentwickelt. Israel ist momentan in einem regelrechten Rausch, seinen Traum von Groß-Israel zu verwirklichen. Da sind Kräfte in der Regierung, die wollen nicht nur den Gaza-Streifen, die wollen noch einen Teil vom Libanon, wollen auch die Golan-Höhen zu einem größeren Israel zusammenpacken. Das ist ein imperialistischer Traum Israels, der sicher auch bei der künftigen Konstellation in Syrien eine wichtige Rolle spielen wird.
Die USA und die westlichen Imperialisten haben kein Interesse daran, dass Israel militärisch eingreift. Sie haben das schon kritisiert. Aber man weiß nicht, was sich hinter den Kulissen alles abspielt.
Celina Jacobs (Rote-Fahne-TV): Du hast jetzt von Kräften im Hintergrund und aus anderen Ländern gesprochen. Kannst du das vielleicht noch weiter ausführen, was wollen die eigentlichen in Syrien?
Stefan Engel: Syrien ist ein relativ entwickeltes Land. Es gibt viel Industrie und wichtige Infrastruktur, große Städte, ein hohes Bildungsniveau der Bevölkerung. Es ist also ein Land, das im Mittleren und Nahen Osten doch ziemliches Gewicht hat. Die Kräfte, die jetzt Einfluss nehmen wollen, sind vor allem neue imperialistische Länder, die sich in den letzten 20, 30 Jahren zu neuimperialistischen Ländern entwickelt haben. Dazu gehört Katar, die Vereinigten Arabischen Emirate, dazu gehört auch Russland, auch die Türkei und natürlich der Iran.
Alle diese Kräfte versuchen entsprechend ihrer imperialistischen Ambitionen Syrien auf ihre Seite zu ziehen. Diese Gruppen, die innerhalb von Syrien tätig waren, wie die Hisbollah, sind nichts anderes als vom Iran ausgerüstete Armeen. Die haben immerhin zeitweise über 100 000 Soldaten gestellt. Al Kaida oder der Islamische Staat waren mehr mit der Türkei und Katar verbunden oder auch mit Saudi-Arabien. Russland hat direkt eingegriffen, also nicht über Stellvertreter, sondern direkt mit Armeen und war der Hauptverbündete Assads. Eigentlich sind nur die Kurden eine unabhängige Kraft, die den Kampf um Freiheit und Demokratie weiterführten. Sie haben in Rojava zumindest zeitweise eine neue demokratische Form aufgebaut, was auch die internationale Unterstützung hervorgerufen hat.
Bei dem neuen Machtgefüge ist auch interessant, dass das ein Stachel in die Vorhaben verschiedener Imperialisten ist, vor allem der Türkei. Der Türkei passt diese demokratische Form in Rojava überhaupt nicht. Die Türkei ist zum Teil einmarschiert, will einen Puffer zur Türkei aufbauen, den sie kontrolliert. Es werden auch türkeifreundliche Gruppen momentan regelrecht auf die kurdische Bewegung gehetzt, um diese demokratische Form zunichte zu machen.
Es ist noch nicht klar, wie sich das insgesamt entwickelt, weil die verschiedensten Mächte tätig sind. Wie weit werden sie gehen, um ihren Einfluss auszuüben? Die deutsche Bundesregierung hat schon erklärt, sie wäre mit einer moderaten Regierung zufrieden und würde das unterstützen. Aber was heißt moderat? Die HTS mit al-Dscholani ist auch eine islamistische Organisation. Al-Dscholani war früher bei Al Nusra tätig, ein Ableger von Al Kaida. Er vertritt heute noch als strategisches Ziel einen Gottesstaat. Das ist eine faschistische Vorstellung einer religiös-faschistischen Staatsordnung, die nicht viel Fortschrittliches erwarten lässt. Dass er etwas toleranter ist als die anderen, die sich ja immer auch gegenseitig bekriegen, bekämpfen, sich gegenseitig umbringen, unterscheidet ihn. Aber ich habe sehr große Bedenken, ob das ein demokratisches Syrien wird.
Celina Jacobs (Rote-Fahne-TV). Vielen Dank Stefan für dieses Gespräch. Ich denke, es ist einiges klar geworden, was die Hintergründe für den Machtwechsel in Syrien sind. An die Zuschauerinnen und Zuschauer gilt wie immer: Schreibt eure Meinungen, Fragen und Hinweise gerne in die Kommentare. Wir lesen das alles, werden es auch an dich, Stefan, weitergeben, damit du Bescheid weiß, was die Leute dazu denken.