Willi Dickhut

Willi Dickhut

Kritik an einem Flugblatt der Zentralen Leitung des KABD

Grundsätzliche Briefwechsel und Dokumente Willi Dickhuts 1973

Von RW-Redaktion
Kritik an  einem Flugblatt der Zentralen  Leitung  des KABD

20.3.73

Lieber Genosse Dickhut,

ich war auch einer von denen, die fast drei Jahre lang auf die schmutzigen Lügen von Weinfurth und Genger reingefallen sind. Obwohl ich während der ganzen Zeit den Revolutionären Weg 4 und 5 im Bücherregal stehen hatte, manchmal sogar die Nase reingesteckt habe, war es mir bis vor einigen Monaten nicht möglich, etwas anderes da herauszulesen, als Genger und Co. vorgekaut hatten. Natürlich war das auch ein großer Teil Dummheit bei mir. Heute jedenfalls führt unsere Ortsgruppe einen harten Kampf um richtig und falsch, und zur Zeit untersuchen wir die Parteigründung 1968, was zweifellos mit der Frage Zirkel oder Partei »Roter Morgen« enden wird. Weitere Einzelheiten über den bisherigen Verlauf unserer Diskussion würden hier zu weit führen.

Aber die ideologischen und politischen Positionen der FSP/ML scheinen mir eine für die Gründung nicht unerhebliche Rolle zu spielen. Ich könnte mir denken, daß Du darüber eine ganze Menge weißt. Ist es möglich, daß Du mir mal umgehend darüber schreibst?

Rot Front! F.

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3.4.73

Lieber Genosse F.!

Unsere Genossen haben mir Deinen Brief vom 20.3. übermittelt und Deine Kritik an unserem zentralen Flugblatt zur Beurteilung gegeben. Wenn Du eingangs erwähnst, Du hoffst, daß wir etwas mit der Kritik anfangen können, so möchte ich Dir sagen, daß jede Kritik eine doppelte Bedeutung hat:

  1. Behandlung des Gegenstands der Kritik und
  2. Beurteilung des Kritikers.

Zum ersten ist zu sagen, daß es natürlich darauf ankommt, von welchem Standpunkt ein Kritiker an den Gegenstand herangeht: von einer vorgefaßten Meinung (die richtig oder falsch sein kann), ob er die Dinge beziehungsweise die Verhältnisse genau kennt, ob er die grundsätzliche Seite dialektisch oder abstrakt, das heißt metaphysisch sieht, ob er die Taktik, die dem Gegenstand zugrunde liegt, erkennt (beziehungsweise anerkennt), ob er den Gegenstand nur aus Buchwissen oder aus der Praxis her kennt, ob er die Kompliziertheit des Gegenstands begreift oder metaphysisch erklärt: Meine Kritik ist ja, ja! nein, nein!, was darüber ist, das ist vom Übel!, ob er den Gegenstand sachlich in seinem Inhalt beurteilt oder subjektiv einen anderen Sinn hineinlegt (unbewußt oder absichtlich).

Zum zweiten kann aus der Kritik auf den Kritiker geschlossen werden, ob er fähig ist, eine Sache richtig zu beurteilen, das heißt, ob er entsprechende theoretische und praktische Kenntnisse hat, ob er ein Arbeiter ist, der von seiner Klassenlage und von seiner Erfahrung im Betrieb und in der Gewerkschaftsarbeit ausgeht, oder ein Intellektueller, der von »außen« gewisse Arbeiterprobleme behandelt, ob er als Kritiker tiefgründig oder oberflächlich handelt.

Aufgrund dieser beiden Seiten überprüfe bitte Deine Kritik, welche Fehler sie enthält; ich will Dir dabei behilflich sein. Ich kenne Dich nicht persönlich, durch Deinen Brief an mich vom 20. 3. habe ich zum erstenmal etwas von Dir gehört. Dieser Brief begann: »Ich war auch einer von denen, die fast drei Jahre lang auf die schmutzigen Lügen von Weinfurth und Genger reingefallen sind … Natürlich war das auch ein großer Teil Dummheit von mir.« Darum wundert mich Deine Kritik, die genau von der Linie des »Zentralbüros« ausgeht. Doch zur Kritik selbst:

Einerseits stellst Du selbst heraus, daß Zahlen »hervorragend zur Beweisführung herangezogen werden sollten« (genau das war beabsichtigt und notwendig, um den Tarifabschluß auszuwerten und zu charakterisieren – Phrasen sind nicht überzeugend), und dann schlußfolgerst Du, daß dadurch »die Haupttendenz nach Ökonomismus riecht«. Das ist erstaunlich, was nur zu erklären ist, daß Du ebenfalls wie das »Zentralbüro« und der »Rote Morgen« die Fehleinschätzung vertrittst, daß auch in Westdeutschland »Haupttendenz Revolution« ist. Dann müßte sich daraus natürlich eine vollständig entgegengesetzte Taktik ergeben. Aber durch diese Taktik hat das »Zentralbüro« Schiffbruch erlitten und die Arbeiter vergrault, selbst aus der eigenen Organisation, was das eigene interne Material aus der KPD/ML(RF) beweist:

Entwurf eines politischen Plans des Landesaufbaukomitees Baden-Württemberg vom 23. 1. 73:

»Beim Kampf gegen die Verstaatlichung der Gewerkschaften fehlt uns jede Auswertung der Metalltarifrunde. Man kann nur gerade hieran die Notwendigkeit einer RGO (Revolutionären Gewerkschaftsopposition) propagieren, der Verstaatlichung die proletarische Demokratie entgegensetzen. Bei der Bestimmung solcher Aufgaben gilt es auch, unsere früheren ökonomistischen Fehler zu beseitigen.«

»Infolge der politischen und ideologischen Desorganisierung

… gibt es bereits eingetretene oder drohende Verluste einzelner Genossen oder schwerwiegende Auflösungserscheinungen einer Grundorganisation.«

Thesenpapier des Landesverbands Niedersachsen vom 9.1.73:

»Allmählich wurde jegliche Gewerkschaftsarbeit liquidiert und alle Kräfte in den Betriebsgruppenaufbau gesteckt … Außerdem wurden so all die Kontakte liquidiert, die außerhalb der Zielbetriebe in den Gewerkschaften usw. bestanden hatten.«

Bericht des Landesverbands Wasserkante, Januar 73:

»Die Linie der Gewerkschaftsbroschüre aber (erst Betriebszellen, dann Gewerkschaftsarbeit) verhinderte durch ihren Schematismus die ernsthafte praktische Aufnahme dieser Tätigkeit … In Hamburg bestehen zwei Betriebsaufbaugruppen mit überwiegend Studenten. Vor einem Jahr etwa sah es hier bei einer bereits besser aus: Es arbeiteten damals Arbeiter aus dem Betrieb mit. Sie verließen uns aber.«

Eine solche Entwicklung kommt doch nicht von ungefähr. Doch gehen wir in der Kritik des Flugblatts weiter. Du meinst, die Kollegen wüßten schon, daß die verkündete Lohnerhöhung niedriger ist. Allgemein stimmt das, aber ob es jeder konkret weiß, ist fraglich, das ist aber nicht so wesentlich. Die Darstellung der konkreten Lage nach der Metalltarifrunde ist doch nur die Grundlage, um aufzuzeigen, was die Kollegen jetzt und in den nächsten Monaten tun sollen – das ist entscheidend. Was Du des weiteren über den tariflichen Lohn schreibst, zeigt eine Unkenntnis der tatsächlichen Lohnverhältnisse, wenn es da heißt: »Die übertariflichen Zulagen haben immerhin die Funktion, die Arbeiterklasse zeitweise zu beruhigen (Dampfablassen), das Lohnniveau unterschiedlich zu machen, was bewußt zur Spaltung der Kollegen (betrieblich, aber gerade auch überbetrieblich) führen soll.«

Für die Arbeiter sind die Effektivlöhne, das heißt die tatsächlich gezahlten Löhne, ausschlaggebend. Die Tariflöhne sind Mindestlöhne, für die keiner mehr arbeitet. Die Tariflohnerhöhung wirkt sich keineswegs automatisch effektiv aus. Vor Jahren haben die Arbeiter immer wieder um die effektive Auswirkung verhandeln und auch kämpfen müssen. Wenn bei der letzten Tarifrunde die Unternehmer (mit wenigen Ausnahmen) ohne weiteres die Tariflohnerhöhung (wertmäßig, nicht prozentual) auf den Effektivlohn hinzugeschlagen haben, dann deshalb, weil sie wußten, daß sie diese »Lohnerhöhung« in Wirklichkeit nichts kostete (wenn Opel zum Beispiel die Autopreise um 5 Prozent erhöhte, dann haben die schon eine zukünftige Lohnerhöhung mit einbezogen). Die Effektivlöhne (als tatsächlich bezahlter Preis der Arbeitskraft) sind nicht das Ergebnis gewerkschaftlicher Verhandlungen oder Kämpfe, sondern richten sich wie jeder Marktpreis nach Angebot und Nachfrage und nach der Kampfkraft der Arbeiter in den Betrieben. Durch zahlreiche Methoden, von Kündigungs- bis Streikdrohung, erzwingen die Arbeiter die Erhöhung ihres Effektivlohns, und zwar zu jeder Zeit, nicht nur bei einer Tarifrunde. Das ist ein Dauerkampf, wobei die Arbeiter natürlich die günstige Situation ausnutzen, zum Beispiel Hochkonjunktur oder vertragliche kurzfristige Liefertermine und anderes.

Es ist darum falsch, jedesmal auf eine Tarifrunde zu starren wie auf ein Wunder, von dem die Arbeiter wer weiß was erwarten, in der Zwischenzeit aber die Hände in den Schoß zu legen. Tarifrunden werden durch dröhnende Paukenschläge begleitet, der Kampf um Erhöhung der übertariflichen Löhne vollzieht sich meistens still und leise als zähes Ringen um einige Pfennige mehr. Es handelt sich hier nicht um »Dampfablassen« seitens der Unternehmer, der Dampf muß diesen abgezwungen werden. Es handelt sich auch nicht darum, »das Lohnniveau unterschiedlich zu machen«. Das Lohnsystem ist im Kapitalismus (übrigens auch im Sozialismus im Gegensatz zum Kommunismus) immer unterschiedlich, denn es richtet sich nach dem Wert der einzelnen Arbeitskraft. Es ist unsinnig, ein gleiches Lohnniveau zu fordern (etwas anderes ist die Aufhebung beziehungsweise Anhebung der unteren Lohnstufen). Marx schreibt in »Lohn, Preis und Profit«, Kapitel VII:

»… genauso wie die Produktionskosten für Arbeitskräfte verschiedener Qualität nun einmal verschieden sind, auch die Werte der in verschiedenen Geschäftszweigen beschäftigten Arbeitskräfte verschieden sein müssen. Der Ruf nach Gleichheit der Löhne beruht daher auf einem Irrtum, ist ein unerfüllbarer törichter Wunsch. Er ist die Frucht jenes falschen und platten Radikalismus, der die Voraussetzungen annimmt, die Schlußfolgerungen aber umgehen möchte. Auf Basis des Lohnsystems wird der Wert der Arbeitskraft in derselben Weise festgesetzt wie der jeder anderen Ware; und da verschiedene Arten Arbeitskraft verschiedene Werte haben oder verschiedene Arbeitsquanta zu ihrer Produktion erheischen, so müssen sie auf dem Arbeitsmarkt verschiedene Preise erzielen. Nach gleicher oder gar gerechter Entlohnung auf Basis des Lohnsystems rufen, ist dasselbe, wie auf Basis des Systems der Sklaverei nach Freiheit zu rufen.« (Hervorhebungen durch Marx)

Deine Kritik in diesem Punkt war also nicht wissenschaftlich. Genauso unüberlegt ist der nachfolgende Satz: »Der übertarifliche Lohn ist somit ein Mittel zur Niederhaltung der Arbeiterklasse.« Wie kannst Du nur so etwas behaupten. Der Kampf der Arbeiter (ob individuell oder kollektiv) um Erhöhung der übertariflichen Löhne ist das einzige Mittel, die Effektivlöhne über das Niveau der tariflichen Mindestlöhne zu steigern. Wenn Du schreibst:

»Jedoch muß das Schwergewicht doch immer auf dem tariflichen Lohnergebnis liegen«, so bedeutet das nichts anderes als Gewerkschaftslegalismus (dazu Näheres am Schluß).

Da die Kapitalisten immer das Bestreben haben, das Lohnniveau zu senken, um ihre Profitrate zu erhöhen, ist auch der Tariflohn keine echte Absicherung gegen Lohnabbau, nicht weil die Unternehmer »das in dieser Zeit nicht rechtfertigen« können, sondern weil die Arbeiter sich das nicht gefallen lassen und den Kampf dagegen aufnehmen würden. Darum unsere Losung »Arbeiteroffensive gegen Unternehmeroffensive!«

Was verstehst Du unter Erhöhung des »Grundlohns«, der »tariflich abgesichert« werden soll? Nicht nur der Zeitlohn, sondern auch der Akkordlohn baut sich auf den Tariflohn als Grundlohn auf. Der Tariflohn ist nur für die Dauer des Tarifvertrags abgesichert, kann also nach Ablauf von beiden Tarifkontrahenten gekündigt und dann sowohl erhöht als auch gesenkt werden. Das ist eine Frage der dahinterstehenden Kraft, denn es gehören zur Lohngestaltung immer zwei: Arbeiter und Unternehmer. Allgemein gilt für die Arbeiterklasse die Erfahrung: Die Arbeiter erringen nur so viel Lohnerhöhung, wie Kraft zur Durchsetzung dahintersteht.

Was Du über die Preisgestaltung schreibst, ist doch nichts als eine demagogische Verdrehung des Inhalts des Flugblatts. Hier ist doch einfach nur die Feststellung getroffen worden, daß die Arbeiter auf die Preisgestaltung keinen Einfluß haben (oder bist Du doch der Meinung?), daß die Preise allgemein (nicht die Monopolpreise in jedem Einzelfall) sich nach Angebot und Nachfrage richten. Ein Verbraucherstreik (wie vor Jahren mal gefordert wurde) ist unsinnig, weil die Arbeiter leben müssen. Und was hat diese Preisgestaltung mit der Währung zu tun? Da die DM eine der festesten Währungen der Welt ist, müßten wir wohl besonders billige Preise haben. Wirf doch bitte nicht alles durcheinander! Völlig abwegig ist der Vergleich mit der DKP-Parole »Löhne rauf, Preise runter!« Der erste Teil ist richtig, der zweite eine Illusion. Wenn Deiner Meinung nach auch »Löhne rauf« eine Illusion ist, dann frage ich, wofür die Arbeiter dann kämpfen sollen. Ich stelle fest, daß nicht wir, sondern Du Dich hier aufs Glatteis begeben hast und revisionistisch ausgerutscht bist.

Der letzte Absatz der ersten Seite, wo es heißt: »Wir sind nicht nur an der Reihe, wenn der ›übertarifliche‹ (Lohn) nicht reicht, wir sind besonders an der Reihe, wenn die IG-Metall-Bonzen über den ›tariflichen‹ mauscheln«, und die nachfolgenden Ausführungen zeigen, daß Du das wirkliche Problem nicht begriffen hast. Worum geht es jetzt und auf lange Sicht gesehen?

Die Gewerkschaften sind eine reformistische Organisation, die im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung Reformen für die Arbeiterklasse herausholen wollen, deshalb nicht gesellschaftsverändernd wirken. Wenn wir den gewerkschaftlichen Kampf um Reformen unterstützen, dann deshalb, weil er eine Schule des Klassenkampfs ist, weil auch in diesem Kampf die Arbeiter Erfahrungen sammeln und sich besonders kämpferische und fähige Kollegen als Führer herauskristallisieren. Diesen Gewerkschaftskampf als »Schwergewicht« bezeichnen, wie Du es tust, ist Gewerkschaftslegalismus. Die Arbeiterklasse kann den politischen Kampf um die Macht nicht in dem reformistischen Rahmen des gewerkschaftlichen Kampfs vorbereiten und durchführen. Sie muß gegebenenfalls diesen reformistischen Rahmen der Gewerkschaften durchbrechen und zu selbständigen Kämpfen übergehen. So heißt es in unserer Grundsatzerklärung:

»Gerade die Septemberstreiks 1969 zeigten, daß breite Teile der Arbeiterklasse die Notwendigkeit begriffen haben, diesen gewerkschaftlichen Rahmen zu durchbrechen, um durch selbständige Kämpfe die eigenen Forderungen durchzusetzen. Dieser Weg führt aber erst dann in die politische Offensive, wenn die Arbeiterklasse über ökonomische Kämpfe hinausgeht und politische Kämpfe führt, die sich schließlich gegen die entscheidende Stütze zur Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems, den Staat der Bourgeoisie, richten.«

An diese selbständigen Kämpfe müssen die Arbeiter herangeführt werden, und zwar muß da angefangen werden, wo es am leichtesten möglich ist, an der ökonomischen Front. In den früheren Jahren wurden fast alle Streiks von den Gewerkschaften geführt, das heißt, sie standen unter Führung der Gewerkschaftsbürokratie. Erstmals durchbrachen im September 1969 die Arbeiter diese Tradition und gingen zu selbständigen Kämpfen über zur Durchsetzung rein ökonomischer Forderungen. Dennoch hatten diese Streiks große politische Bedeutung, weil es in der BRD kein Streikrecht gibt. Das Grundgesetz garantiert nur ein Koalitionsrecht, aber nicht das Streikrecht. Es besteht nur eine nicht gesetzlich verankerte Übereinkunft, daß gewerkschaftliche Streiks um Tariffragen stillschweigend anerkannt werden, nicht aber politische Streiks der Gewerkschaften. Somit richtet sich jeder Streik, der den reformistischen Rahmen der Gewerkschaften durchbricht, mittelbar gegen die staatliche Ordnung. Da diese selbständigen ökonomischen und politischen Kämpfe nur unter Führung der revolutionären Arbeiterpartei zu revolutionären Aktionen führen können, müssen sie von den Kommunisten propagiert und vorbereitet werden. Das ist aber ein Prozeß der Verwandlung bisheriger gewerkschaftlicher Kämpfe in selbständige. Diese Entwicklung zu selbständigen politischen Kämpfen kann nur über den Weg der selbständigen ökonomischen Kämpfe vor sich gehen, denn die Arbeiter müssen an diese Kampfformen herangeführt und gewöhnt werden. Dazu bietet gegenwärtig der Kampf um Erhöhung der übertariflichen Löhne eine günstige Gelegenheit.

Hier muß die richtige Taktik einsetzen. Du hast richtig bemerkt, daß zunächst ein Angriff auf die »verräterische Position der IG-Metall-Spitze ausgeklammert« wurde – und zwar bewußt, weil sonst die vorgesehene Stoßrichtung und der eigentliche Zweck unwirksam gemacht würde. In der Gewerkschaftsbroschüre des Zentralbüros, die Du sicherlich hast, wird auf Seite 43 aus der Rede Piatnitzkis auf dem XII. EKKI-Plenum (Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale) 1932 folgender Passus zitiert:

»Welche Funktion hat die Gewerkschaftsopposition? Ihre Funktion ist, die Arbeit innerhalb der reformistischen Gewerkschaft. Sie hat die Funktion, Unorganisierte gemeinsam mit den Organisierten zu organisieren, die organisatorische Basis zu schaffen für die Vorbereitung und Führung selbständiger Kämpfe mit Hilfe jener Gewerkschaftsopposition, die innerhalb der reformistischen Gewerkschaften arbeiten, damit, wenn Streiks ausbrechen oder sich eine Bewegung vorbereitet, die Mitglieder der Opposition innerhalb der Gewerkschaften die Bonzen ›unter Druck setzen‹ und vorschlagen, sich dem Streik anzuschließen.«

Dieses Zitat wurde ohne Kommentar gebracht. Der erste Teil ist auch heute zutreffend und die Vorbereitung selbständiger Kämpfe zwingend notwendig. Der zweite Teil konnte damals noch zutreffend sein, heute nicht mehr. Die Bonzen werden alles daransetzen, selbständige Streiks abzuwürgen, weil diese selbständigen Streiks als sogenannte »wilde« Streiks als illegal angesehen werden; auch die Gewerkschaften als »Ordnungsfaktor« des Staats erkennen sie nicht an, ganz abgesehen davon, daß die Gewerkschaften für Schadenersatz verklagt würden, wenn sie sich hinter einen »wilden Streik« stellen würden. Darum treffen die selbständigen Streiks nicht nur die Unternehmer und deren Verbände, sondern auch die Gewerkschaftsbürokratie. Das ist es, was die Bonzen befürchten, was klar aus den Worten Loderers hervorging. Darum hatten sich September 1969 die Vertreter des Arbeitgeberverbands und der Gewerkschaften schnell zusammengesetzt, um durch den Trick der vorgezogenen Tarifverhandlungen diese selbständigen Streiks in den Griff zu bekommen, um sie abzuwiegeln.

Für die gesamte Entwicklung des Klassenkampfs sind aber gerade die selbständigen Kämpfe der Arbeiterklasse von entscheidender Bedeutung, darum muß man taktisch so operieren, daß die Vorbereitung und Auslösung solcher Streiks nicht unnötig gefährdet werden. Würden wir diesen politischen Zweck (selbständige Streiks) gleichzeitig mit einem Angriff auf die Gewerkschaftsbürokratie wegen ihres faulen Kompromisses beim Tarifabschluß verbinden, wird sie sofort ein Geschrei über die Gewerkschaftsfeindlichkeit der Kommunisten erheben und die Arbeiter von dem Gedanken eines selbständigen Streiks ablenken. Damit hätte die Gewerkschaftsbürokratie ihren Zweck erreicht. Du hast offensichtlich keine Erfahrung mit der Gewerkschaftsbürokratie, die sofort eine Handhabe, die ihr geboten wird, aufgreifen würde, um die (auch für sie gefährlichen) selbständigen Streiks abzuwiegeln. Den faulen Kompromiß des Tarifabschlusses haben die Arbeiter sofort erkannt, was die Urabstimmung der Stahlarbeiter und die nachfolgenden Diskussionen zeigen. Inzwischen sind die offiziell angekündigten Preiserhöhungen bereits statt 5,5 bis 6 Prozent auf 7 Prozent gestiegen. In diesem Fall sehen die Arbeiter schon klar. Was noch nicht fest in das Bewußtsein der Arbeiter eingedrungen und zum Bestandteil ihres Klassenkampfs geworden ist, ist die Notwendigkeit der selbständigen ökonomischen und politischen Kämpfe. Sie dahin zu bringen ist die wichtigste Aufgabe. In diesem Zusammenhang steht die Frage der Entlarvung der Gewerkschaftsbürokratie. Die Arbeiter müssen sich anhand eigener Erfahrungen von dem Verrat der reformistischen Führer überzeugen. Das können sie am besten, wenn sie selbständige Kämpfe führen, denn die Gewerkschaftsführer werden diese mit allen Mitteln abzuwürgen versuchen. Hierbei werden sie sich vor aller Augen entlarven, und diese Situation muß von uns propagandistisch ausgenutzt werden, aber aus oben genannten Gründen nicht vorher. Darum haben wir in den Mittelpunkt die Losungen gesetzt:

Arbeiteroffensive gegen Unternehmeroffensive! Für Erhöhung der übertariflichen Löhne!

Das kann nicht durch gewerkschaftlichen, sondern nur durch selbständigen Kampf erreicht werden. Die günstige Wirtschaftslage der Hochkonjunktur erleichtert die Auslösung dieser Kämpfe. Es ist spitzfindig, daraus zu konstruieren: »Jetzt können wir es wagen, weil es auch den Kapitalisten gutgeht«. Das kann nur einer sagen, der nicht im Betrieb steht. Bei Hochkonjunktur steigern die Unternehmer ihre Profite, und bei Krisen wälzen sie die Lasten auf die Schultern der Arbeiter ab, um ihre Profite zu erhalten. Den Monopolkapitalisten geht es immer gut, und sei es mit Hilfe des Staates, mit dem sie verschmolzen sind. Wenn die Arbeiter die Hochkonjunktur ausnutzen sollen, so besagt das nicht, daß sie in Krisenzeiten nicht kämpfen sollen, im Gegenteil, nur haben diese Kämpfe mehr den Charakter von Abwehrkämpfen und sind darum schwieriger. Die Arbeiter kennen den Unterschied aufgrund ihrer Erfahrungen ganz genau.

Deine Schlußbemerkung: »Die richtig geforderte Arbeiter- offensive hat keine politische Stoßrichtung«, zeugt doch von einer Ahnungslosigkeit über die Entwicklung des Klassenkampfs in der Etappe ohne akut revolutionäre Situation; oder vertrittst Du auch die Fehleinschätzung über die wirtschaftliche und politische Lage und die Entwicklung der Klassenkräfte und -kämpfe der Führung bei der KPD/ML, daß die Haupttendenz in Westdeutschland Revolution sei? Dann allerdings kommen wir nicht auf einen Nenner.

Rot Front! Willi