Willi Dickhut
Kapitalismus in der Sowjetunion
Briefwechsel und Dokumente Willi Dickhuts 1982
Lieber Willi 23. 3. 82
im vergangenen August fragte eine Genossin des Archivs bei uns an, wie wir zu Mao Tsetungs Aussage von 1940 stehen, die Sowjetunion sei in der Periode des Übergangs vom Sozialismus zum Kommunismus (Ausgewählte Werke Bd. II., S. 404). Wir haben die Anfrage der Genossin am 7. 9. der gesamten Zentralen Leitung und Zentralen Kontrollkommission und auch Dir zur Kenntnis gegeben.
Meiner Meinung nach spricht die Genossin hier eine Sache an, die in der kommunistischen Weltbewegung 1940 unbestritten war. Ausgehend von der Sowjetunion und Stalin wurde die falsche Ansicht vertreten, in der Sowjetunion seien alle dem Proletariat feindlichen Klassen liquidiert. In seinem Referat zur Verabschiedung der neuen Verfassung der UdSSR im November 1936 sagte Stalin, daß die »Klasse der Gutsbesitzer und die alte imperialistische Großbourgeoisie schon in der Periode des Bürgerkriegs liquidiert« worden seien. »In den Jahren des sozialistischen Aufbaus wurden alle ausbeutenden Elemente – Kapitalisten, Kaufleute, Kulaken, Spekulanten – liquidiert. Übriggeblieben waren nur unbedeutende Reste der liquidierten Ausbeuterklassen, deren völlige Liquidierung eine Frage der allernächsten Zeit ist.« (nach: »Geschichte der KPdSU(B), Kurzer Lehrgang«, S. 427) Von dieser Einschätzung ausgehend, stellt Stalin fest: »Damit verankerte die Verfassung die weltgeschichtliche Tatsache, daß die Sowjetunion in eine neue Entwicklungsphase, in die Phase der Vollendung des Aufbaus der sozialistischen Gesellschaft und des allmählichen Übergangs zur kommunistischen Gesellschaft eingetreten ist, in welcher der leitende Grundsatz des gesellschaftlichen Lebens das kommunistische Prinzip sein muß: ›Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen‹« (ebenda, S. 431) Dem steht allerdings entgegen, was Stalin auf dem XVIII. Parteitag zu den ökonomischen Bedingungen des Übergangs einräumte:
»Nur dann, wenn wir die wichtigsten kapitalistischen Länder ökonomisch überholt haben, können wir darauf rechnen, daß unser Land mit Bedarfsgegenständen vollauf gesättigt sein wird, daß wir einen Überfluß an Produkten haben und die Möglichkeit erhalten werden, den Übergang von der ersten Phase des Kommunismus zu seiner zweiten zu vollziehen.« (Zitiert nach: Revolutionärer Weg 7, S. 74f.)
Im Revolutionären Weg 19 werden dagegen aufgrund der Erfahrungen der kommunistischen Weltbewegung die Schlußfolgerungen für den Übergang von der ersten zur zweiten Phase des Kommunismus, vom Sozialismus zum eigentlichen Kommunismus gezogen:
»Solange es in der Welt noch kapitalistische Länder gibt, ist die Bedrohung des sozialistischen Aufbaus von außen nicht aufgehoben und die Gefahr der Restauration des Kapitalismus durch die Entartung der Bürokratie im Innern des sozialistischen Landes nicht beseitigt. Erst wenn durch die schrittweise durchgeführte proletarische Weltrevolution die Herrschaft des Kapitalismus in der ganzen Welt beseitigt ist, sind die äußeren Bedingungen für den Übergang von der ersten zur zweiten Phase des Kommunismus gegeben. Die inneren Bedingungen liegen in der allmählichen Überwindung des Unterschieds zwischen Stadt und Land (und damit auch zwischen Arbeitern und Bauern) und zwischen der körperlichen und geistigen Arbeit (und damit auch zwischen Arbeitern und Intellektuellen), der Verschmelzung der beiden Eigentumsformen (gesellschaftliches und genossenschaftliches Eigentum verbinden sich zu nur gesellschaftlichem Eigentum), der Schaffung eines Überflusses an Produkten als Grundlage des Übergangs zum Verteilungsprinzip ›Jedem nach seinen Bedürfnissen!‹«. (Revolutionärer Weg 19, S. 504/506)
Meiner Meinung nach handelt es sich hier um einen historisch bedingten Fehler Stalins, der von der gesamten kommunistischen Weltbewegung übernommen wurde. Erst durch die Erfahrungen mit der Restauration des Kapitalismus in der Sowjetunion und die theoretischen Arbeiten Mao Tsetungs zur Frage der Fortdauer des Klassenkampfs im Sozialismus konnte dieser Fehler korrigiert werden.
Es wäre aber falsch, deswegen Stalin oder Mao Tsetung etwas am Zeug zu flicken. Mao Tsetung hat selbst in Theorie und Praxis diesen Fehler korrigiert. Ich glaube nicht, daß dazu extra Stellung genommen werden muß, da die inhaltliche Klarstellung ja eigentlich im Revolutionären Weg 7 und im Revolutionären Weg 19 erfolgt ist.
Was meinst Du?
Rot Front!
i. A. Kl.
Lieber Kl.! 6. 4. 82
Ich hatte die Kopie des Briefes des Archivs wohl bekommen, aber keine Aufforderung, dazu Stellung zu nehmen. Meine Meinung dazu ist die, daß Stalin auf dem XVIII. Parteitag 1939 die Auffassung des unmittelbaren Übergangs von der ersten zur zweiten Phase des Kommunismus in etwa korrigiert hat. Anknüpfend an das von Dir gebrachte Zitat wendet sich Stalin gegen die »Phantastereien, wenn nicht Schlimmeres« der Planzentrale wegen der zu hoch angesetzten Planziffern und erklärt, daß man zur wirtschaftlichen Überholung der kapitalistischen Welt viel Zeit brauche, wörtlich: »Es ist also Zeit erforderlich, und nicht wenig Zeit, um die wichtigsten kapitalistischen Länder ökonomisch zu überholen.«
Stalin versichert, daß die kapitalistischen Elemente in der Sowjetunion liquidiert seien. Das traf im großen ganzen wohl zu, darin liegt nicht der Fehler Stalins, sondern darin, daß er nicht erkannt hatte, daß sich in den Reihen der Partei eine neue Bourgeoisie verbreitete, eines Typs, den es noch nie gegeben hatte. Diese Bourgeoisie neuen Typs entstand durch die kleinbürgerlich entartete Bürokratie, durch Privilegien, Aufhebung des Parteimaximums, damit Freigabe hoher Gehälter, Förderung des Karrieretums, Unterdrückung ehrlicher Kritik von unten, falsche Machtausübung verbunden mit Übergriffen usw.
Nicht die äußeren Wesenszüge der früheren kapitalistischen Elemente waren die Hauptursache, daß der Übergang von der ersten zur zweiten Phase des Kommunismus nicht erfolgen konnte, sondern die inneren Entwicklungstendenzen zur Bildung einer Bourgeoisie neuen Typs. Dazu kommt natürlich die äußere kapitalistische Umwelt, die diesen Prozeß förderte (siehe Revolutionärer Weg 9, XI. Kapitel).
Stalin hat eine solche Entwicklung entweder nicht gesehen oder sie verkannt, und zu dieser Zeit sah sie auch Mao Tsetung nicht. Erst die Tatsache der Restauration des Kapitalismus in der Sowjetunion veranlaßte Mao Tsetung, als Schlußfolgerung die Große Proletarische Kulturrevolution als höchste Form des Klassenkampfs im Sozialismus zu erkennen und im eigenen Land durchzuführen. Der Fehler Stalins und Mao Tsetungs im Jahre 1940 ist ein historisch bedingter Fehler, der aus dem vollkommenen Fehlen jeglicher Erfahrung zwangsläufig entstehen mußte. Erst die Erfahrung macht klug! So ein altes Sprichwort. Erst das Beispiel der Restauration des Kapitalismus in der Sowjetunion erzeugte bei Mao Tsetung die Idee der Großen Proletarischen Kulturrevolution.
Damit hoffe ich, Deinen Brief ausreichend beantwortet zu haben.
Herzlichen Gruß
Willi