Redebeitrag zum Seminar „Imperialismus, Krieg und Faschismus“ in Indien
Ist Indien ein neuimperialistisches Land?
Redebeitrag zum Seminar „Imperialismus, Krieg und Faschismus“ in Indien
Liebe Genossinnen und Genossen,
herzlichen Dank an die Genossinnen und Genossen der CPI ML (Red Star) zur Organisierung dieses Seminars mit internationaler Teilnahme und unserer Einladung. Wir begrüßen es sehr, dass die CPI (ML) Red Star ein Forum auch für die sachliche Diskussion kontroverser Fragen bietet und in der Vergangenheit geboten hat.
Die Tendenz zu Krieg und Reaktion ist im heutigen ökonomischen Grundgesetz des Imperialismus begründet. Im Buch von Stefan Engel „Götterdämmerung über der ‚neuen Weltordnung‘“ heißt es dazu:
»Eroberung und Verteidigung einer beherrschenden Stellung auf dem Weltmarkt durch die internationalen Monopole; Sicherung des Maximalprofits durch den Aufbau internationaler Produktionsverbünde, durch ständige Steigerung der Ausbeutung der internationalen Arbeiterklasse, durch Ruinierung oder Zerstörung der Lebensgrundlagen ganzer Völker in ausnahmslos allen Ländern der Erde, durch Ausplünderung ganzer Staaten bis zum Bankrott, durch gigantische Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums zu Gunsten der Monopole und zu Lasten aller übrigen Schichten der Gesellschaft, durch Aufhebung der staatlichen Souveränität der neokolonial ausgebeuteten und unterdrückten Länder, durch militärische Aktionen zur Sicherung der Vorherrschaft bis zum möglichen Weltkrieg um die Neuaufteilung der Welt.« (S.278)
Mit dem Ukrainekrieg brach eine offene politische, ökonomische, ökologische und militärische Weltkrise aus und wird heute ein Dritter Weltkrieg von fast allen imperialistischen Mächten aktiv vorbereitet. Er droht akut und kann jederzeit ausbrechen. Diese Gefahr wird teils in der internationalen marxistisch-leninistischen, revolutionären und Arbeiterbewegung unterschätzt und der von beiden Seiten ungerechte Ukrainekrieg von Einigen als rein europäisches Problem abgetan. Dabei eskaliert erstmals seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs unmittelbar eine militärische Konfrontation zwischen imperialistischen Mächten und Machtblöcken. In der Geschichte führten Situationen, in denen einer Großmacht die Verdrängung durch eine aufstrebende Macht drohte, regelmäßig zu Krieg.
Über die Herausbildung der neuimperialistischen Länder
Weitere Hintergründe in der Broschüre.
3 €
Heute haben wir es mit einer Vielzahl von aufstrebenden Mächten zu tun, die die bisherigen Machtsphären der „alten“ imperialistischen Länder in Frage stellen. In der neuen Broschüre von Stefan Engel, Gabi Fechtner und Monika Gärtner-Engel „Der Ukrainekrieg und die offene Krise des imperialistischen Weltsystems“ heißt es:
„Der Zusammenbruch der sozialimperialistischen Supermacht Sowjetunion und des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) 1990/1991 führte zu einem einheitlichen Weltmarkt. Das zog die Neuorganisation der internationalen kapitalistischen Produktion nach sich. Dieser Prozess der wirtschaftlichen und politischen Neuordnung der Welt wälzte das gesamte bisherige imperialistische Weltsystem um. Alle imperialistischen Länder und die führenden internationalen Monopole der Welt konkurrierten erbittert um die Vorherrschaft auf dem neu entstandenen Weltmarkt. Inzwischen hatten sich in China und einigen bevölkerungsreichen ehemals neokolonial abhängigen Ländern einheimische Monopole und staatsmonopolistische Strukturen herausgebildet. Sie führten zur Entstehung einer Reihe neu-imperialistischer Länder. Bereits im Jahr 2017 gab es mindestens 14 neu-imperialistische Länder, in ihnen lebte mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung. Sie machten den USA, Japan und den Staaten der EU zunehmend Absatzmärkte und Einflussgebiete streitig. Einige dieser Länder bauten eine regionale imperialistische Vormachtstellung auf. Dazu gehören Indien, die Türkei, Russland, Südafrika, Saudi-Arabien und Brasilien. Sie verfolgen Visionen eigener imperialistischer Vorherrschaft, entwickeln schnell wachsende militärische Machtapparate und bilden weltweit ideologisch-politische Machtzentren zur Manipulation der öffentlichen Meinung heraus.“ (S. 6)
China ist mittlerweile zu einer ökonomischen Supermacht aufgestiegen und strebt danach, dies auch in politischer und militärischer Hinsicht zu werden. In der genannten Broschüre heißt es dazu: „Der Konkurrenzkampf zwischen den USA und China dominiert inzwischen allgemein die zwischenimperialistischen Widersprüche, die sich zugleich multipolar entfalten.“ (S. 8)
Der Weltwirtschaftskrieg in Folge des Ukrainekriegs treibt die Blockbildung voran und es hat bereits eine offene Krise der Neuorganisation der internationalen Produktion eingesetzt. Das neuimperialistische Indien hält sich allerdings genauso wie die Türkei oder Brasilien zurück, sich voreilig einem Block zuzuordnen. Indien weigert sich, sich den westlichen Sanktionen anzuschließen und profitiert sogar über den Import und Wiederverkauf russischen Öls. Indien ist Mitglied des militärischen Shanghai-Bündnis gemeinsam mit dem neuimperialistischen China und Russland, aber gleichzeitig auch im „Quad“-Bündnis gemeinsam mit den USA, Australien und Japan. Das zeigt, dass es mit eigenen imperialistischen Interessen handelt und weder Vasall noch „Juniorpartner“ des US-Imperialismus ist, wie manchmal bis heute behauptet wird. Dass Indien unterschiedliche zwischenimperialistische Bündnisse eingeht, setzt das eigenständige imperialistische Interesse Indiens voraus. Es sind zeitweilige und widersprüchliche Bündnisse zum gegenseitigen Vorteil. Die ehemals einseitige Abhängigkeit Indiens von der sozialimperialistischen UdSSR und der imperialistischen Supermacht USA weicht mehr und mehr einer gegenseitigen Durchdringung, auch wenn Indien in den globalen imperialistischen Bündnissen noch keine Führungsrolle spielt.
Natürlich ist Indien ökonomisch, politisch und machtpolitisch gesehen weit hinter der gegenwärtig einzigen allseitig entwickelten Supermacht, den USA und auch hinter China zurück. Das zeigt gerade die Komplexität der heutigen Entwicklung, wo es neben Supermächten, Großmächten, auch mittlere und kleinere imperialistische Länder gibt. Kennzeichnend ist hier, dass zwischen ihnen bei aller erbitterten Konkurrenz eine gegenseitige Abhängigkeit besteht, die sich z.B. in einer Vielzahl neuer Bündnisse ausdrückt.
In der jetzigen Situation wächst die Bedeutung der Diskussion und Vereinheitlichung in der internationalen marxistisch-leninistischen und Arbeiterbewegung über die Einschätzung der Herausbildung der neuimperialistischen Länder. So leugnen die offenen Revisionisten strikt den imperialistischen Charakter Russlands und unterstützen hörig und willfährig das faschistische Putin-Regime. Das Buch von Stefan Engel »Die Krise der bürgerlichen Ideologie und des Opportunismus« zeigt auf:
»In Krisen, wenn deren Kosten und Lasten auf die Massen abgewälzt werden, wenn die Bourgeoisie revolutionäre Entwicklungen bekämpft oder auf Kriegskurs ist – kurz: Wenn sich die Widersprüche verschärfen, geht der Opportunismus gesetzmäßig in Sozialchauvinismus über.“ (S. 242)
Man kann die Weltlage nicht treffend analysieren und wird sogar falsche Schlussfolgerungen für die Strategie und Taktik ziehen, wenn man die Tatsache der Herausbildung neuimperialistischer Länder leugnet oder infrage stellt. Natürlich ist es Aufgabe der indischen revolutionären Parteien, ihre ideologisch-politische Linie festzulegen, wo wir uns nicht einmischen. Wir möchten aber unsere Erkenntnisse und Überlegungen in die Diskussion einbringen, und dabei auch auf verschiedene Gegenargumente dazu eingehen.
Bekanntlich gibt es ausgehend von Lenin drei hauptsächliche Merkmale der imperialistischen Entwicklung, in ökonomischer, politischer und außenpolitischer Hinsicht.
Ökonomisch kennzeichnet nach Lenin die Herausbildung von Monopolen und dass sie eine beherrschende Stellung im Wirtschaftsleben einnehmen den imperialistischen Charakter eines Landes. Indien hat neun Übermonopole unter den 500 größten der Welt1, zwei mehr als 2021: Reliance Industries, Indian Oil, Oil & Natural Gas, State Bank of India, Bharat Petroleum, Tata Motors, Tata Steel, Rajesh Exports, Life Insurance Corporation-Indien. Sie haben im letzten Berichtsjahr 2021 einen Umsatz von 444,3 Milliarden US-Dollar gemacht. Zum Vergleich: Das indische Bruttoinlandsprodukt lag 2021 bei 3.042 Milliarden US-Dollar. Indien hat insgesamt 55 Monopole (2022), die auf der Liste Forbes 20002 aufgeführt sind. Das sind bereits mehr als das imperialistische Deutschland mit 52 Monopolen. Ein Großteil der Monopole entstand gerade als Ergebnis der neoliberalen Politik mit der Privatisierung des öffentlichen Sektors. Natürlich öffnete Singh Indien bereitwillig den ausländischen internationalen Monopolen. Aber er schuf auch die Grundlage für wachsende indische Monopole, die wiederum davon profitieren konnten, dass das ausländische internationale Finanzkapital in Ländern wie China oder Indien ein Ausweg aus der Überakkumulation des Kapitals suchte.
Teils wird mit Hinweis auf ausländische Beteiligung an einigen dieser Konzernen ihr Charakter als indische Übermonopole infrage gestellt. Tatsächlich gehört ein Großteil dieser Übermonopole aber indischen Multimilliardären bzw. ihren Familien (wie die Ambani Familie bei Relianca, die Tata Familie bei Tata – über ihre Stiftungen oder durch direkte Leitung in Vorstand oder Aufsichtsrat - oder die Mittal Familie bei Arcelor-Mittal), oder sie sind staatlich (wie Indian Oil oder Bahrat Petroleum, bei denen der Staat 51% der Aktien hält). Entscheidend ist die Aktienmehrheit oder ein beherrschender Aktienanteil bei großem Streubesitz. In der Weltwirtschaft ist es heute typisch, dass Monopole eine hohe ausländische Beteiligung haben. Ein großer Teil des weltweiten Kapitalexports zielt auf solche Beteiligungen, mit denen sich Monopole verschiedenster Länder am Raubprofit anderer Monopole beteiligen. Das ist eine wesentliche Methode, wie das internationale Finanzkapital heute die Welt unter sich aufteilt. In Deutschland hielten schon 2019 ausländische Investoren an 23 der 30 DAX (Deutscher Aktienindex)- Konzerne mindestens 50% der Aktien. Bei Mercedes-Benz ist die chinesische BAIC-Gruppe mit 10% der Stimmrechte der größte Einzelaktionär, der chinesische Investor Li Shufu hält einen Anteil von 9,7% und der kuwaitische Staatsfonds 6,8%. Nur 34,4% der Aktien des Konzerns sind in deutscher Hand. Die Produktion findet längst hauptsächlich im Ausland statt. Dennoch würde niemand auf die Idee kommen, ihn nicht als deutsches Monopol zu qualifizieren. Der Konzern ist in Deutschland entstanden, hat hier weiterhin seinen Sitz und der deutsche Staat ist sogar im Besonderen Dienstleister von Mercedes-Benz.
Typisch für die indischen Monopole ist, dass sie sich zu internationalen Übermonopolen gemausert haben, die selbst Arbeiter in verschiedenen neokolonial abhängigen und imperialistischen Ländern ausbeuten und sich dort die Naturschätze zu eigen machen. Es erweist sich als ein Mythos, dass multinationale Konzerne nur im Westen existieren und alle indischen beherrschen würden. So ist Tata mit seinen 30 Gesellschaften in mehr als 100 Ländern auf allen sechs Kontinenten tätig. Tata Sons ist die beherrschende Holding des Tata-Konzerns und über auch in Deutschland verbreitete Stiftungsmodelle zu 66% in Familienbesitz. Zur Tata Group gehören inzwischen mehr als 98 Unternehmen, vom Metallbereich, über die Telekommunikation bis zur Autoindustrie. Tata hat 935 000 Beschäftigte. Kein privates Unternehmen beschäftigt in Indien mehr Arbeiter und Angestellte als Tata. Der Börsenwert der gelisteten Tata-Unternehmen beträgt 311 Mrd. US-Dollar. Der unvollständig zusammengerechnete Umsatz der größten Tata-Unternehmen beträgt mindestens 128 Mrd. US-Dollar. 3
Arcelor Mittal ist der weltweit größte Stahlkonzern, gerechnet nach erzeugten Tonnen Roheisen. 39% der Stimmrechte liegen bei der Treuhandgesellschaft HSBC Trustee (C.I.) Limited im Auftrag der indischen Familie Lakshmi Mittal. Die Familie stellt auch die Konzernspitze. Dass der Konzern seinen Sitz aus Steuergründen in Luxemburg hat, ändert nichts daran, dass er ein Übermonopol mit Hauptverankerung in Indien ist. Der Sitz von Arcelor Mittal in Luxemburg oder früher Mittal Steel in Rotterdam war vor allem wichtig, um den europäischen Markt zu erobern und die feindliche Übernahme von Arcelor durch Mittal zu erreichen. Als Monopol, das seinen Sitz nicht in der EU hat, wäre das kaum möglich gewesen, wie die gescheiterte Übernahme von thyssenkrupp durch Tata zeigte. Auch Mahindra ist ein internationales Übermonopol. In Indien beherrscht es ca. 38% des Traktorenmarkts, weit vor John Deere, die in Indien vier Werke betreiben.
Die größte Bank Indiens, State Bank of India, ist seit 1955 staatlich. Es ist aber eine international tätige Bank mit Niederlassungen in allen wesentlichen imperialistischen Staaten.
Indien ist auch zu einem wichtigen Kapitalexporteur geworden, nach Lenin ein Hauptkriterium der imperialistischen Entwicklung: „Für den alten Kapitalismus, mit der vollen Herrschaft der freien Konkurrenz, war der Export von Waren kennzeichnend. Für den neuesten Kapitalismus, mit der Herrschaft der Monopole, ist der Export von Kapital kennzeichnend geworden.“ (Lenin, Werke, Bd. 22, S. 244) Der Bestand an indischen Direktinvestitionen im Ausland betrug 2020 191 Mrd. US-Dollar. 2021 gab es Direktinvestitionen Indiens im Ausland in Höhe von 15,522 Milliarden US-Dollar4, eine Verdreifachung seit 2016, nach einem Rückfall in der Weltwirtschafts- und Finanzkrise von 2008-2014. Indische Konzerne befinden sich mittlerweile auch in der Spitzengruppe bei Landraub, besonders in Afrika.
Ein anderer Einwand gegen den neuimperialistischen Charakter Indiens ist, dass Indien keine allseitig entwickelte Industrie und Produktionsbasis habe. Eine allseitige Produktionsbasis ist aber aufgrund der heutigen Stufe der internationalen Arbeitsteilung kein entscheidendes Beurteilungskriterium mehr für den imperialistischen Charakter eines Landes. Die imperialistischen Länder und ihre internationalen Monopole konzentrieren sich auf die Bereiche, in denen sie Weltmarktführung erringen, Monopolpreise diktieren und andere Länder – auch imperialistische – in Abhängigkeiten bringen können. Deutschland hat z.B. den Steinkohlebergbau komplett aufgegeben, Großbritannien sich auf seine Rolle als internationaler Finanzplatz konzentriert. Aus der Arbeitsteilung in einer internationalisierten Produktion ergeben sich vielfältige gegenseitige Abhängigkeiten. Indische Monopole haben auch in wichtigen Bereichen Weltmarktführung und das auf Basis einer hochentwickelten Technik. So gilt Tata (TCS) als der Weltmarktführer im Bereich IT-Service. Mahindra verkauft weltweit die meisten Traktoren, Wipro im IT-Bereich, Crompton Greaves bei Transformatoren. Arcelor-Mittal ist der größte Stahlkonzern der Welt.
Indien hat seit der Neuorganisation der internationalen Produktion sein wirtschaftliches Gewicht in der Welt entschieden erhöht. Vor Beginn der Kolonisierung hatte Indien einen Anteil am Weltsozialprodukt von geschätzten 25%, was bis 1980 auf 2,78% zurückgefallen war. Heute sind es laut Weltbank bereits wieder über 7%, womit Indien die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt ist.
Natürlich gibt es in Indien einen schreienden Widerspruch zwischen hochproduktiven internationalen Übermonopolen, unvorstellbarem Hunger und Elend, rückständigen bis zu halbfeudalen Bereichen in der Landwirtschaft. Das ist aber kein Argument gegen den imperialistischen Charakter des Landes. Lenin sagte 1917 in einer vergleichbaren Situation zum imperialistischen Charakter Russlands: „In Russland wäre es überdies auch darum falsch, den Imperialismus als einheitliches Ganzes darzustellen (der Imperialismus ist überhaupt kein einheitliches Ganzes), weil es in Russland noch sehr viele Gebiete und Arbeitszweige gibt, die von der Natural- und Halbnaturalwirtschaft erst zum Kapitalismus übergehen.“ (Lenin, Werke, Bd. 24, Seite 466) Er bezeichnete Russland ausdrücklich als imperialistisches Land, obwohl es fraglos in vielen Bereichen „unterentwickelt“ war und nur über einen Bruchteil an Industrie verfügte wie z.B. Indien heute.
Das Modi-Regime ist Dienstleister der indischen Übermonopole. Mit seiner „Make in India“-Politik fördert es gezielt die Expansion der indischen Monopole, besonders privat geführte „Champions“ im Energie- und Telekommunikationsmarkt.
Unter der Modi-Regierung wird eine aggressive umweltzerstörerische Politik betrieben. So verfolgt er den Plan, 55 neue Kohleminen zu eröffnen, 193 bestehende Minen zu erweitern und jährlich 1 Milliarde Tonnen Kohle zu fördern. Untertagezechen werden geschlossen und der Übertagebergbau ausgebaut. 80 % der neuen Minen befinden sich auf dem Land der Adivas und hier läuft eine gigantische Zerstörung des Landes und der Lebensgrundlage Zehntausender.
Gezielt wird auch das Bauernlegen forciert und Kurs auf die verstärkte kapitalistische Industrialisierung und Monopolisierung der Landwirtschaft genommen, wogegen sich heftige Bauernunruhen entfaltet haben.
All das führt auch zu wichtigen Veränderungen der Klassenstruktur Indiens. So sollen nach den uns bekannten Zahlen heute noch ca. 42 % der Beschäftigten in der Landwirtschaft tätig sein. Dieser Anteil ist in den letzten Jahren sogar in Zusammenhang mit der Corona- und Weltwirtschafts- und Finanzkrise wieder gestiegen. Aber ca. ein Viertel der in der Landwirtschaft Beschäftigten sind nach den uns vorliegenden Zahlen Landarbeiter5, deren Gesamtzahl über 36 Millionen liegen soll. Nachdem der Anteil der Industriearbeiter lange Zeit gestiegen war, ist er infolge der Krisen der letzten Zeit in den vergangenen fünf Jahren um einiges zurückgegangen, wächst aber wieder an. Im produzierenden Gewerbe, Bergbau und Bau soll es zusammen ca. 81,88 Millionen Beschäftigte geben6. Nach Angaben der Weltbank machen die insgesamt in der Industrie Beschäftigten sogar 26,2% aller Beschäftigten aus. Allein ca. 21,4 Millionen fest oder in Leiharbeit beschäftigte Industriearbeiter soll es in Indien im produzierenden Gewerbe geben7. Hinzufügen müsste man den Teil der Tagelöhner, die auch in der Industrie tätig sind. Etwa 40 Millionen Bauarbeiter dürften gleichfalls zur Arbeiterklasse im engeren Sinne zählen. Ein größerer Teil der in den sogenannten Dienstleistungsbereichen Beschäftigten von etwa 32,3 % der Erwerbstätigen muss zur Arbeiterklasse im weiteren Sinne gezählt werden.8
Deshalb sollte man unseres Erachtens die Frage aufwerfen, was daraus für die Hauptkraft der Revolution folgt. In jedem Fall hat sich ein besonders in den Export-Zonen zusammengeballtes internationales Industrieproletariat gebildet, das im Kampf der Arbeiterklasse und aller Unterdrückten an der Spitze stehen muss. Das zeigt, dass auch in Indien der Charakter der Revolution objektiv bereits proletarisch ist. Indien ist ein Zentrum der weltweiten Proteste und Bauernaufstände und einer großen Frauenbewegung, wobei besonders große Generalstreiks der Arbeiterbewegung deutlich hervortreten. An solchen beteiligten sich am 2. September 2016 bis zu 180 Millionen, am 9. Januar 2019 rund 200 Millionen und im November 2020 250 Millionen Arbeiter zusammen mit Millionen Bauern gegen das Regime unter dem Faschisten Modi. Sicherlich gibt es noch wichtige Aufgaben der Agrarrevolution, der Überwindung von Rückständigkeit und Einseitigkeiten der Wirtschaft und der Überwindung feudaler Überreste. Subjektive Faktoren können nach unserer Einschätzung die Errichtung einer antiimperialistischen neudemokratischen Ordnung als Zwischenetappe notwendig werden lassen.
Das zweite Merkmal des Imperialismus im Unterschied zum Kapitalismus der freien Konkurrenz ist, dass er politisch Reaktion auf der ganzen Linie bedeutet. Lenin erläuterte: “Politische Reaktion auf der ganzen Linie ist eine Eigenschaft des Imperialismus.“ (Lenin, Werke, Bd. 23, Seite 103). Hier hatte sich seit 2016 eine allgemeine Rechtsentwicklung in den imperialistischen Ländern breit gemacht, die mit dem Ukrainekrieg verschärft wird. In Indien festigte sich das Modi-Regime und schränkte die demokratischen Rechte und Freiheiten immer empfindlicher ein und betreibt eine aggressive Faschisierung des Staatsapparats. Modi ist ein Faschist und vertritt weltanschaulich die extrem reaktionäre bis faschistische Hindutva-Ideologie. Danach wäre Indien kein säkularer vielfältiger Staat, sondern ausschließlich ein Staat der Hindus, die als herausgehobenes Volk über andere gestellt werden. Der Hindu-Nationalismus ist eine Art des Rassismus und extremen Antikommunismus.
Drittens bedeutet Imperialismus außenpolitisch Streben nach Weltherrschaft. Lenin brachte das so auf den Punkt: „Die 'Weltherrschaft' ist, kurz gesagt, der Inhalt der imperialistischen Politik, deren Fortsetzung der imperialistische Krieg ist.“ (Lenin, Werke, Bd. 23, S. 26) Modi visiert ein „indisches Jahrhundert“ an. Immerhin hat Indien auch eine Bevölkerung von 1,39 Milliarden und wird in einigen Jahren mehr Menschen zählen als China. Indien baut seine regionale Vormachtstellung zum Beispiel zulasten Nepals aus. Im Streben nach regionaler Vorherrschaft kommt gegenwärtig das Streben nach Weltherrschaft in der indischen Politik zum Ausdruck. Die Rolle als Regionalmacht kann nicht der Einschätzung als imperialistische Macht entgegengehalten werden. Auch andere imperialistische Mächte, wie die Türkei, sind heute vor allem Regionalmächte. Manche kleinere Imperialisten haben heute nicht einmal das Potenzial, als Regionalmacht zu wirken, wie zum Beispiel Luxemburg oder Liechtenstein. Sie setzen auf die Verbindung zur EU und beteiligen sich darüber daran, andere Länder auszubeuten. Solche Unterschiede muss man fraglos beachten, aber niemals sind sie für Marxisten-Leninisten ein Grund, irgendeinen Imperialisten in Schutz zu nehmen. Auch zu Lenins Zeiten gab es übrigens bereits kleinere imperialistische Länder wie die von ihm ausdrücklich so charakterisierte Schweiz, die nicht in der Lage waren, unmittelbar andere Länder zu beherrschen.
Indien verfolgt einen aggressiven außenpolitischen Kurs. Gerade erst wurde der erste in Indien gebaute Flugzeugträger eingeweiht, womit Indien über zwei Flugzeugträger verfügt. Indien hat die zweitgrößte Armee der Welt und 1,45 Millionen Soldaten unter Waffen. Hinzu kommen 1,15 Millionen Reservisten und 87.000 paramilitärische Kräfte, sowie dem Innenministerium unterstellte 1,4 Millionen Polizeikräfte. Indien beginnt jetzt auch mit der Aufrüstung im Weltall und dem digitalen Wettrüsten. Indien kann seit November 2018 auf eine nukleare Triade zurückgreifen, also Atomwaffen mittels Raketen, Flugzeugen oder U-Booten können zum Abschuss gebracht werden. Indien ist heute noch eine der größten Rüstungsimporteure der Welt, will aber mittel- bis langfristig eine international wettbewerbsfähige Rüstungsexportindustrie aufbauen, als ein zentraler Pfeiler des „Make in India“-Programms von Modi.
Indien verfolgt auch eine kulturimperialistische Politik mit der weltweiten Vermarktung der Bollywoodkultur. Auch Indien nutzt Fernsehsender und Internet für die Beeinflussung der indischen Minderheiten im Ausland. Gezielt beeinflusst Modi die indische Diaspora, die auf mindestens 20 Millionen Menschen geschätzt wird.
Die indische Revolution kann sich also unseres Erachtens heute nicht mehr nur unmittelbar gegen das im Land agierende ausländische internationale Finanzkapital richten, sondern muss sich ebenfalls unmittelbar gegen die nationale Monopolbourgeoisie und gegen die Überreste des feudalen und halbfeudalen Großgrundbesitzes richten. Würde ein Aufruf zur Befreiung Indiens vom Imperialismus unter Missachtung seines neuimperialistischen Charakters hingegen - in die Konsequenz gedacht - nicht objektiv auf eine Unterstützung des indischen Imperialismus hinauslaufen?
1 Fortune Global 500, 2022, eigene Berechnung
2 Forbes global 2000: www.forbes.com/lists/global2000/
3 www.tata.com/stockdata
4 Länderbericht Wirtschaftskammer Österreich, Juli 2022, auf Basis der Weltbankdaten
5 CEDA-CMIE Bulletin no. 10, 7. April 2022
6 Business Standard, CEDA, 7. Mai 2021
7 CMIE – Industrial recovery, 23. Mai 2022
8 Zahlen zum Anteil der in Landwirtschaft, Dienstleistungsbereich und Industrie Beschäftigten an den Gesamtbeschäftigten data.worldbank.org, zusammengefasst de.statista.com, Erwerbstätige nach Wirtschaftssektoren in Indien bis 2020, 1. August 2022