Gabi Fechtner
Diskussion zur "Ideologiefreiheit" und zu Lenin
Als die MLPD im Mai 2020 vor ihrer Parteizentrale eine gut zwei Meter große Statue ihres Namenspaten Lenin aufstellte, erhob sich unter den bürgerlichen Antikommunisten unter anderem in der Gelsenkirchener Stadtspitze und den bürgerlichen Parteien ein wüstes Geschrei. Unsummen an Steuergeldern wurden von der SPD-Stadtspitze ausgegeben, um Stimmung gegen Lenin zu machen. Daraus entstanden verschiedene Auseinandersetzungen und Briefwechsel, aus denen die Redaktion REVOLUTIONÄRER WEG Auszüge aus einem Brief von Gabi Fechtner veröffentlicht.
Gabi Fechtner 4.11.2020
Meiner Ansicht nach liegt der berühmte Hund unserer Differenz in der Frage der „Ideologiefreiheit“ begraben. Sie schreiben, dass ich Sie aufgefordert habe, Ihr Ideologiegepäck abzuwerfen - und dass Sie sich jetzt das Gleiche von mir wünschen. Damit wären wir wieder bei der Ideologie von der Ideologiefreiheit als anzustrebenden Zustand. Diesen Zustand gibt es aber in der Realität nicht!
Die verschiedenen Weltanschauungen entstanden ja mit den gesellschaftlichen Klassen und sind somit klassengebunden. Bekanntlich leben wir noch nicht in der klassenlosen Gesellschaft! Solange es also Klassen in der Gesellschaft gibt, kann es auch keine Weltanschauung geben, die neutral oder - wie Sie beanspruchen - sozusagen „faktisch“ ist. Jede Weltanschauung, jede Denkweise, jede Herangehensweise an die Wirklichkeit und damit auch jede Geschichtsschreibung ist an eine bestimmte Klasse gebunden.
Durchgehend lösen Sie sich eben nicht von der bürgerlichen Ideologie und Herangehensweise, von der Prägung durch die bürgerliche Geschichtsschreibung. Ich fordere also noch viel mehr von Ihnen, als nur Ihr ideologisches Gepäck „abzuwerfen“. Es geht darum, dass man zunächst einmal anerkennen muss, dass es eine proletarische und eine bürgerliche Ideologie und damit auch eine entsprechende Geschichtsauffassung gibt. Und dann muss man entscheiden, auf welcher Seite man stehen will. (...) Sind sie weltanschaulich offen für den Standpunkt der proletarischen Weltanschauung oder wird er gleich als dogmatisch und totalitär angesehen und behandelt?
Sie kennen sicherlich Gerd Koenen - zumindest sind Sie, was Ihre Veröffentlichungen angeht, ziemlich „auf einer Linie“ mit ihm, auch wenn Sie sich von den anderen antikommunistischen „Hofautoren“ wie Jörg Barberowski u.a. distanzieren. Herr Koenen forderte neulich in einer Veranstaltung von der MLPD, wir sollten doch endlich mal „die moderne Geschichtsschreibung anerkennen“. Aber es gibt keine neutrale oder moderne Geschichtsschreibung, sondern eine, die als allgemein gesellschaftlich vorherrschend und damit „richtig“ gilt. Marx sagte zu diesem Phänomen: »Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d. h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht. Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so daß ihr damit zugleich im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind. Die herrschenden Gedanken sind weiter Nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse, ...« (»Die deutsche Ideologie«, Marx/Engels, Werke, Bd. 3, S. 46).
Insofern möchte und werde ich meine proletarische Ideologie, die Klassengebundenheit meiner Auffassungen nicht abwerfen und beanspruche das auch gar nicht. (...)
Da Sie aber selbst so stark verfangen sind in der bürgerlichen Ideologie, machen Sie in Bezug auf die Auseinandersetzung Lenin/Bogdanov einen Denkfehler - oder sagen wir besser - einen Fehler in der Denkweise.
Sie unterstellen einfach, dass die klare und kompromisslose Abgrenzung Lenins von der bürgerlichen Ideologie, seine Kompromisslosigkeit gegen jeden Versuch der Vermischung von Idealismus und Materialismus, die Grundlage für den Totalitarismus oder sogar spätere Verbrechen und „Säuberungen“ gewesen sei. (...)
Sie weisen selbst schon darauf hin, dass die Kausalität nicht überstrapaziert werden sollte. Wird sie aber! Sie setzen im Weiteren einfach den Idealismus und die bürgerlichen Ideen mit dem Fortschritt und „dem Neuen“ gleich und folgern daraus, dass seither die Wissenschaft und Ideologie im Sozialismus erstarrt war und keine Fortschritte mehr hervorgebracht hat, ja sogar eine Herangehensweise gefestigt wurde, andere Meinungen rigoros zu unterdrücken, zu verfolgen usw. Das ist doch absurd!
Interessanterweise befassen Sie sich gar nicht mit den Abschnitten aus Lenins Materialismus und Empiriokritizismus, wo er sich mit dem Vorwurf des Dogmatismus auseinandersetzt. Im fünften Abschnitt „Absolute und relative Wahrheit, oder über den von A. Bogdanov bei Engels „entdeckten“ Eklektizismus“ setzt sich Lenin genau damit auseinander:
„Ihr werdet sagen: Diese Unterscheidung zwischen relativer und absoluter Wahrheit ist unbestimmt. Ich antworte darauf: Sie ist gerade „unbestimmt“ genug, um die Verwandlung der Wissenschaft in ein Dogma im schlechten Sinne dieses Wortes, d.h. in etwas Totes, Erstarrtes, Verknöchertes zu verhindern, sie ist aber zugleich „bestimmt“ genug, um sich auf das entschiedenste und unwiderruflichste vom Fideismus und vom Agnostizismus, vom philosophischen Idealismus und von der Sophistik der Anhänger Humes und Kants abzugrenzen. Hier ist eine Trennungslinie, die ihr nicht bemerkt habt, und weil ihr sie nicht bemerkt habt, seid ihr in den Sumpf der reaktionären Philosophie hinabgeglitten. Dies ist die Trennungslinie zwischen dialektischem Materialismus und Relativismus.“ (Lenin, Werke, Bd. 14, S. 131)
Wir haben also den Anspruch, dass unsere theoretische Arbeit sowohl flexibel als auch prinzipienfest ist: Flexibel in Bezug auf neue Erscheinungen und wesentliche Veränderungen als Teil der sich verändernden objektiven Wirklichkeit, prinzipienfest, weil die Erforschung der Wahrheit von den wissenschaftlichen Grundlagen des dialektischen und historischen Materialismus als grundsätzliche Seite ausgehen muss.
Es handelte sich bei dieser Auseinandersetzung also nicht um eine persönliche Fehde zwischen Lenin und Bogdanov, sondern um eine weltanschauliche Auseinandersetzung zwischen Idealismus und Materialismus. (...)
Das Werk Materialismus und Empiriokritizismus ist ja in einer Phase wütender Reaktion und Repression nach der verlorenen Revolution von 1905, aber auch Erscheinungen der Resignation und Zerfahrenheit in der SDAPR entstanden. Die „Geschichte der KPdSU“ wertet diese Zeit so aus:
„Die zaristische Regierung benutzte die Niederlage der Revolution, um die feigsten und nur auf ihre eigene Haut bedachten Mitläufer der Revolution als ihre Agenten, als Lockspitzel anzuwerben. (…) Auf dem Gebiet der Philosophie mehrten sich die Versuche einer 'Kritik', einer Revision des Marxismus, auch kamen alle möglichen religiösen Strömungen, durch angeblich 'wissenschaftliche' Beweisgründe bemäntelt, zum Vorschein. Die 'Kritik' des Marxismus wurde zur Mode.“ (Kapitel IV, Abschnitt 1) Natürlich hat Lenin vor diesem Hintergrund polemisiert und den Kampf gegen eine Verfälschung des Marxismus-Leninismus und Vermischung von bürgerlicher und proletarischer Ideologie gekämpft! Sie verwechseln die Polemik als wissenschaftlichen Meinungsstreit, der die Fronten klärt und Klarheit schafft, mit persönlichen Fehden.
Selbstverständlich wurde in der Sowjetunion, solange Lenin lebte und auch danach, mit dem dialektischen Materialismus umfangreich weiter wissenschaftlich geforscht und ein weltanschaulicher Kampf geführt. Wie erklären Sie sich sonst die bahnbrechenden Erfolge in der Sowjetunion etwa in der Physik, der Biologie, der Höherentwicklung der Arbeitsproduktivität, in den Erziehungswissenschaften usw. und so fort? Sie können doch nicht allen Ernstes sagen, dass Wissenschaft und Erkenntnisfortschritt stoppen und erstarren, wenn man nicht die bürgerliche Ideologie annimmt? Wie erklären Sie sich die riesigen Fortschritte sowohl in der Sowjetunion als auch in den Jahren des sozialistischen Aufbaus in China, wenn es dort angeblich aufgrund des „Totalitarismus“ keinen Fortschritt mehr gab? (...)
Gehen Sie also mit diesem Herangehen nicht wieder von vorbestimmten „Grundkategorien“ aus, dass der Marxismus-Leninismus totalitär, erstarrt und dogmatisch sei, während die bürgerliche Ideologie das Neue erfasst, Fortschritt kennzeichnet usw.? Warum ist es dann aber so, dass der heute sicherlich auf seinem Höhepunkt befindliche Stand der bürgerlichen Wissenschaft und Ideologie eben nicht dazu führt, dass diese Fortschritte auch zum Nutzen der Menschheit angewandt werden? Dem liegt zum einen ein weltanschauliches Problem zugrunde, dass die bürgerliche Wissenschaft und Ideologie positivistisch herangeht, viele auch brauchbare Einzelerkenntnisse macht, aber eben keine dialektisch-materialistische, systematische Wissenschaft vornimmt. Man sieht das derzeit gut an der Medizin in der Corona-Pandemie. Diese weltanschauliche Problematik wird identisch damit, dass politisch jede Frage der Maximalprofit bringenden Logik der herrschenden Monopole unterworfen wird. So gibt es Umweltschutz wie z.B. erneuerbare Energien nur dann, wenn er Profite bringt und wenn ein Konzern damit Weltmarktführerschaft erringen kann. Die Lithium-basierten Batterien in der E-Mobilität wurden unter anderem deshalb ausgewählt, weil sie deutlich weniger Bauteile benötigen, sehr viel schneller hergestellt werden können und die Profitrate bei dieser Form der E-Autos besonders hoch ist. Und nicht etwa aus einer Gesamtsicht, die die Einheit von Mensch und Natur und ihre Interessen in den Mittelpunkt stellen. Dann hätte man den katastrophalen Rohstoffverbrauch beachten müssen, die neuen Umweltprobleme der Entsorgung usw.. Insofern: Was wäre schädlich daran, an dieses Problem ganz „totalitär“, ausschließlich von der dialektisch-materialistischen Weltanschauung und ohne Kompromisse bezüglich der Interessen von Mensch und Natur auszugehen?
Sie sind auf einer falschen Fährte, wenn Sie die späteren Probleme und auch Verbrechen, die in der Zeit von Stalin im Namen des Sozialismus verübt wurden, nun auf die proletarische Ideologie und ihren Wahrheitsanspruch schieben. Sie haben sicherlich schon gemerkt, dass auch wir den Anspruch haben, diesen Problemen auf den Grund zu kommen. Allerdings mit dem Anspruch, daraus zu lernen für einen neuen Anlauf des Sozialismus und nicht dafür, diesen auf immer zu verbannen.
Die Grundlage für die Fehler, Verbrechen und den Verrat am Sozialismus mit dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 war doch gerade die Abkehr von der proletarischen Weltanschauung, der Einfluss der bürgerlichen Ideologie und die Rückkehr zu gesellschaftlichen Paradigmen des Kapitalismus. Was die Fehler Stalins angeht, so liegen diese gerade in der Verdrängung des weltanschaulichen Kampfs und der Festigung und Weiterentwicklung der proletarischen Weltanschauung.
Wir haben uns zum Beispiel in einem Buch aus unserer Reihe REVOLUTIONÄRER WEG, dem theoretischen Organ der MLPD, mit den Problemen im Umweltschutz der Sowjetunion unter Stalin auseinandergesetzt. Darin heißt es: „Die sowjetische 'Unbedarftheit' hatte auch weltanschauliche Gründe. Nach all den Erfolgen beim Aufbau des Landes und bei der Nutzung der Naturkräfte entstand eine Tendenz, die Beherrschbarkeit der Natur zu verabsolutieren. Das kam unter anderem in der Diskussion um den Dawydow-Plan zum Ausdruck. Dieser gigantische Entwurf zur weiteren Umgestaltung der Natur enthielt Überlegungen, die riesigen Ströme Ob, Irtysch und Jenissei zu stauen und dann umzukehren, um mit ihrem Wasser die Steppen und Wüsten im Süden zu bewässern. Dieser vermessene Plan folgte der idealistischen Denkweise des 'Siegs der Menschen über die Natur', der willkürlichen Schaffung neuer Naturgesetze.“ (Stefan Engel, Katastrophenalarm – Was tun gegen die mutwillige Zerstörung der Einheit von Mensch und Natur?, Seite 300)
Der hauptsächliche Fehler, den die MLPD an Stalin kritisiert, ist, dass er tendenziell nicht die Massen gegen den aufkommenden Bürokratismus und die Gefahren der Restauration des Kapitalismus mobilisierte und keinen massenhaften weltanschaulichen Kampf darum führte. Stattdessen setzte er tendenziell einseitig den selbst verbürokratisierten Geheimdienst zur Bewältigung dieser Probleme ein. Im Kampf gegen äußere Bedrohungen wie gegen den Überfall Hitlerdeutschlands war wiederum die Massenmobilisierung eine seiner Meisterleistungen.
Ebenso in Bezug auf andere Fragen der alten kommunistischen Bewegung auch in Deutschland kritisiert die MLPD Erscheinungen einer dogmatischen Aneignung und Auslegung des Marxismus-Leninismus, die Verdrängung seiner Methode des dialektischen Materialismus, einseitig politische Herangehensweisen usw. Das ist aber kein Problem des Marxismus-Leninismus, sondern ein Problem seiner Anwendung oder seiner Verzerrung bzw. Abkehr davon!
Eine weitere Auseinandersetzung hatten wir über den weißen Terror. Ich hatte Sie darauf angesprochen, dass Sie in verschiedenen Veröffentlichungen diesen mitsamt seinen Gräuel und der Tatsache, dass der rote Terror eine Reaktion darauf war, überhaupt nicht darstellen und verurteilen. Stattdessen werden so ziemlich sämtliche Verbrechen dieser Zeit Lenin, den Bolschewiki und dem roten Terror in die Schuhe geschoben. Sie hatten sich klar positioniert (sinngemäß), dass der weiße Terror verurteilt werden muss, große Verbrechen hervorgebracht hat und darüber auch Einheit bestehe. (…) Wir kennen diese Methode, dass von Trägern des weißen Terrors antikommunistische Lügen verbreitet werden und im Verlauf der Geschichte durch ständige Verwendung als Quelle diese immer „wahrer“ werden. (…) Beispielsweise das Buch »Der rote Terror 1918 -1923« von Mel'Gunov. Sie werden mir wohl zustimmen, dass dieser jedenfalls kein „neutraler“ Historiker ist!
Er war als aktives Mitglied der Union zur Wiederbelebung Russlands und damit als Täter tief verstrickt in den weißen Terror, entstammte selbst einer Adelsfamilie. Seine Organisation ermordete unter anderem am 21. Juni 1918 den Volkskommissar für Pressewesen, Wolodarskij (M.M. Goldstein). Wegen seiner Beteiligung am weißen Terror wurde Gunov verhaftet und zum Tode verurteilt. Dann wurde das Urteil in Haft umgewandelt und 1922 verließ er das Land und setzte seinen Terror propagandistisch fort.
Warum greifen Sie auf solche Quellen zurück und geben ihnen damit noch den Nimbus der Seriosität? Ist das Ihre „faktische“ Wahrheit? Andere bürgerliche Professoren gehen damit durchaus kritischer um, stellen seine Behauptungen in Frage und haben ihn an einen einzelnen Fragen z.B. in Bezug auf den Wrangel-Feldzug bereits der Lüge überführt.
Prof Dr. Smail Rapic von der Bergischen Universität schreibt (neben seiner Verurteilung des roten Terrors, aber zumindest einordnend) über den weißen Terror:
„Der Terror der Weißen stand dem Roten jedoch in nichts nach. Das massive Engagement der West-Alliierten zugunsten der Weißen lässt sich keinesfalls als Verteidigung der Freiheit gegen den Totalitarismus deuten. Die Weißen verübten Massaker an der jüdischen Bevölkerung, die die Pogrome der Zarenzeit in den Schatten stellten. Die Weißen rechtfertigten ihre antisemitischen Ausschreitungen damit, dass die Bolschewiki den Juden soziale Aufstiegschancen eröffnet hatten – dies werde Russland ruinieren. Nach neueren Schätzungen wurden bis zu 150.000 Juden von den Weißen ermordet. Der Bürgerkrieg kostete über 9 Millionen Menschen das Leben – im 1. Weltkrieg hatte das Russische Reich 2 Millionen Menschen verloren. Durch die Hungersnot, die dem Bürgerkrieg folgte, starben nochmals 5 Millionen Menschen. Die Unterstützung der Weißen durch die West-Alliierten im Bürgerkrieg war der eine Grund für das anhaltende Gefühl der Bolschewiki, von feindlichen Mächten eingekreist zu sein, ohne das es zum Stalinismus nicht gekommen wäre.“1
(…) Sie lösen den roten Terror völlig aus dem Kontext der Schlacht des weißen Terrors zur Vernichtung der Oktoberrevolution und all ihrer Früchte. Natürlich muss man die Mittel und Methoden, wie der Bürgerkrieg nach der Oktoberrevolution stattgefunden hat, einordnen in eine Zeit regelrechter Verrohung nach dem I. Weltkrieg, in eine Zeit, in der es in den meisten Ländern der Welt die Todesstrafe gab, in der die Überfälle auf die Sowjetunion mit äußerster Brutalität und Gräuel begangen wurden. Wir können nicht von unserer heutigen „gesitteten“ Vorstellung aus damalige Kämpfe beurteilen, mit dem erhobenen Zeigefinger und ohne historischen Gesamtkontext! Insofern sind die meisten Einzelvorgänge und Zitate, die Sie bringen, sicherlich zutreffend - aber eben doch von der „Kontextlosigkeit“ geprägt, die Sie selbst von sich weisen.
Ich könnte Ihren vielen Zitaten, Quellen und Zeugenaussagen natürlich eine Fülle von Zitaten und Aussagen über die Lage der Arbeiterklasse, die Unterdrückung, die Brutalität des Zaren, des weißen Terrors, der Kulaken usw. gegenüberstellen. Ich beschränke mich auf eine Kostprobe. So berichteten unter anderem verschiedene des Kommunismus unverdächtige US-Militärs, die Teil der Interventionstruppen waren, später über den Terror der Weißen.
So General William S. Graves, dessen Verbindungsoffiziere ihm täglich Berichte brachten über die von Admiral Koltschak eingeführten terroristischen Methoden. „Der Admiral verfügte über eine Armee von 100 000 Mann, Tausende wurden unter Androhung der Todesstrafe rekrutiert. Die Gefängnisse und Sammellager waren überfüllt. Längs der transsibirischen Strecke baumelten an Telegraphenstangen und Bäumen Hunderte von Russen, die es gewagt hatten, sich dem neuen Diktator zu widersetzen. Viele ruhten in Massengräbern, die sie mit eigenen Händen ausheben mußten, bevor Koltschaks Henker sie mit ihren Maschinengewehren niedermähten. Schändung, Mord und Raub waren an der Tagesordnung.
Einer von Koltschaks Stellvertretern, der ehemalige zaristische General Rosanow, gab folgenden Tagesbefehl an seine Truppen aus:
1. Bei der Besetzung von Dörfern, die sich vorher in den Händen von Banditen (Sowjetpartisanen) befunden haben, sind die Anführer der Bewegung unbedingt festzunehmen; wenn das nicht möglich ist, aber genügend Beweise für die Anwesenheit solcher Führer vorhanden sind, ist jeder zehnte Einwohner zu erschießen.
2. Wenn die Einwohner einer Stadt durchmarschierenden Truppen keine Meldung über die Anwesenheit des Feindes erstatten, obwohl sie dazu Gelegenheit hatten, so ist eine allgemeine Geldkontribution zu erheben. Niemand darf geschont werden.
3. Dörfer, in denen unsere Truppen auf bewaffneten Widerstand stoßen, sind niederzubrennen; sämtliche erwachsenen männlichen Einwohner sind zu erschießen. Eigentum, Häuser, Wagen und so weiter werden für die Armee beschlagnahmt.“2
Ebenso gäbe es unendlich viel Material über die „Emanzipation und das Glück“ der Menschen im sozialistischen Aufbau, das Sie in Frage stellen. Aber eine Zitatenschlacht bringt uns hier nicht weiter.
Ich möchte die Verzerrungen in Ihrer Darstellung der Oktoberrevolution und des Bürgerkrieges anhand einer aktuellen Auseinandersetzung deutlich machen – auch wenn solche historischen Analogien nie absolut treffend sind. (...)
Als der faschistische IS das befreite kurdische Gebiet Rojava, insbesondere Kobanê, 2014 angriff, war es völlig richtig, dass die Kurden Selbstverteidigungseinheiten bildeten und rigoros und erfolgreich die Feinde der erkämpften demokratischen Errungenschaften bekämpften. Hätten sie das nicht gemacht, wären alle Fortschritte ihrer demokratischen Selbstverwaltung (Gleichberechtigung von Mann und Frau, Schaffung von Räten zur Beteiligung aller ethnischen und religiösen Gruppen, ökologische Paradigmen der Gesellschaft) zerstört worden und ein mittelalterliches barbarisch-faschistisches Kalifat errichtet worden. Niemand außer der türkische Faschist Erdogan und seine Verbündeten kam auf die Idee, diesen berechtigten Verteidigungskampf der Kurden als „Terror“ zu verunglimpfen. Weltweit gab es riesige Solidarität und Anteilnahme. Natürlich könnte man in einigen Jahrzehnten auch Bücher darüber schreiben, welche „Morde“ die Kurden in dieser Zeit „verbrochen“ haben, über die Brutalität der dortigen Schlachten lamentieren und man könnte auch einige mehr oder weniger martialische Zitate aus der „Kriegsberichterstattung“ der Kurden wiedergeben - und dabei einfach ausblenden, wer wie diese Region mit welchem Motiv überfallen hat …
Es geht mir darum zu verdeutlichen, dass solche Entwicklungen nicht geschichtslos oder getrennt von den Klassenkämpfen beurteilt werden können. Oder wie es Marx sagt „Die wahre Theorie muss innerhalb konkreter Zustände und an bestehenden Verhältnissen klargemacht und entwickelt werden.“ (Marx, Brief an Dagobert Oppenheim, August 1842, MEW Bd. 27, S. 409)
Mir fällt in diesem Zusammenhang an Ihrem Buch auf, dass eben dieser Kontext zumeist tendenziell ausgeblendet wird: Wie die Masse der Bevölkerung lebte, wie die gesamtgesellschaftliche Situation war, warum sie wie gekämpft haben. Es ist doch absurd, das alles mehr oder weniger auf die Persönlichkeit Lenins und den angeblichen Machthunger eines einzelnen usw. zurückzuführen. (...)
So, nun haben sowohl Sie als auch wir weiter unsere grundsätzlichen Positionen dargelegt. Gerne können wir darüber weiter im Austausch bleiben. (...)
Mit freundlichen Grüßen
Gabi Fechtner
.
1 Rapic, Vorlesungen 2011 in Solingen und Remscheid
2 Aus „Die große Verschwörung“, hier verarbeitet: General William S. Graves, American Siberian Adventure, 1918-1920 (New York, Jonathan Cape and Harrison Smith, 1931).