RW 39

RW 39

»Die Rebellion des Urchristentums nicht überschätzen!«

Briefwechsel eines Lesers des Buches: »Die Krise der bürgerlichen Gesellschaftswissenschaften, der Religion und der Kultur« mit Stefan Engel zu Fragen der Religion.

Von RW-Redaktion

Brief vom 14.3.2025


Hallo, Stefan,

ich bin zwar getauft, aber konfessionslos. Die DDR erzog mich atheistisch und der Kalte Krieger von Pfarrer bewirkte, dass viele Verwandte vom Glauben abfielen. Die Bibel las ich erst in der Wendezeit, als die Kirche der Opposition in der DDR Raum bot. Von einer christlichen Krankenschwester, deren Sohn nicht studieren durfte, weiß ich, dass eine Gängelung stattfand. Als FDJ-Sekretär nahm ich an einer SED-Sekretärssitzung teil, auf der nach Art eines Göbbels gegen jegliche Religion gewettert wurde.  Zumal es sich um Menschen handelt, die die DDR nach dem Krieg mit aufbauten, empfand ich das als ungerecht. Und tatsächlich war das nicht immer so. Der Wechsel vom Sozialismus zum Revisionismus wirkte sich auch auf die DDR-Religionspolitik aus. Während in der sozialistischen Phase einvernehmlich aus Trümmern des Kirchenschiffs eine bescheidene Kirche in Wismar erstand, erntete Revisionist Ulbricht, der die Sprengung des unversehrten Kirchturms forderte, einen erfolgreichen Widerstand. Ob das auf Vorkriegskontakte zur KPD zurückging oder nicht, weiß ich nicht, aber mein Uropa vertrat die Einstellung, dass wir dem Können und Schaffen unserer Vorfahren Respekt zu zollen hätten, obgleich der Klassenfeind sie für sich vereinnahmt hat. Obwohl die DDR-CDU sich in der Opferrolle sieht, hat die Pfarrerstochter Angela Merkel es zur Naturwissenschaftlerin mit Studium in Moskau gebracht. Entweder geht das noch auf die sozialistische Phase zurück oder es gab Verstrickungen mit der Stasi.

Die Bibel ist eine evolutionsbedingt unwissenschaftliche Zusammenfassung des Werdegangs des Menschen. Insofern die Klasse der Ausgebeuteten der Schrift lange Zeit unkundig blieb, wurde dieser Werdegang von den Ausbeutern zu Papier gebracht.  Sie haben alles in die Bibel hineingeschrieben, was ihrem Weltbild entsprach. Selbst ein »Dolmetscher« namens Luther hat seinen mittelalterlichen Wunderglauben einfließen lassen. Jesus ging nicht »über das Wasser«. Er verstand es, »Brücken« zu bauen. Was wäre unsere Bündnisarbeit heute ohne dieses Brückenbauen? Meines Erachtens ist das Jesus schon damals gelungen. Er muss eine guter Dialektiker seiner Zeit gewesen sein, dass er viele Anhänger hatte aber auch Gegner unter den Ausbeutern. 

Nach Jahrtausenden der Ausbeuterordnungen ist das Geld nicht mehr wegzudenken. Selbst der Sozialismus kann darauf nicht verzichten, obgleich er es mit einem anderen Sinn erfüllt, bis es sich wie auch der Staat im Kommunismus erübrigt haben wird. Anders als in der bürgerlichen Scheindemokratie prangte damals das Konterfei des Repräsentanten der Sklavenhalterordnung auf den Münzen. Ich bin mit dem Münzwesen nicht vertraut, aber es dürfte damals dem römischen Staat unterstanden haben. Wenn der römische Kaiser als Herausgeber Eigentümer der Münze war, dürfte es dialektisch naheliegen, ihm diese zuzugestehen. Geld hatte im Übergang von der naturalistischen zur Ausbeuterordnung nicht den Stellenwert, den es heute erlangt hat. Wir kennen das von den Armen in den Dschungelgebieten dieser Welt: Sie stillen den Hunger, den die Gesellschaft nicht zu stillen vermag, in der Natur, bis sich Großagrarier oder Monopole ihres Ackerlandes oder ihres Stückes Dschungel bemächtigen.

Spätestens als das Christentum sich im  Alten Rom durchsetzte (War das im Jahr 80?) und staatstragend wurde, machte es Sinn, brav Steuern zu zahlen, weil der Hauptwiderspruch, der die Christen einst in Bewegung versetzte, nun überwunden schien.  Einerseits war es das Eingeständnis der Sklaverei, so nicht mehr weiterwirtschaften zu können, andererseits ein gewissermaßen kultureller Sieg der Sklaven über die Sklavenhalter. Kulturell deshalb, weil diese Sklaverei ja modifiziert bis heute fortbesteht.  Die Verwandlung des Christentums von der Opposition gegen die Sklavenhalterordnung zu einer Säule der Ausbeutung und Unterdrückung wiederholte sich in gewisser Weise, als aus Kommunisten Revisionisten wurden - nur mal als Bezug zum Heute. Dieses Christentum schaffte es über Missionare, die als Bildungsmonopolisten fungierten, immerhin Gebiete wie Germanien, die sich des Alten Roms lange erwehren konnten, römisch zu prägen und kulturell einzubinden, während das Alte Rom zerfiel. Die ökonomische Durchdringung an die Stelle der faschistischen Gewalt gesetzt zu haben, soll heute die EU als Demokratie erscheinen lassen. Jede der bisherigen Ausbeuterordnungen bemäntelte die ihr eigenen Widersprüche mit einem Lügengebäude. Vielleicht hatten die Ausbeuter es in der Sklaverei oder im Feudalismus leichter als im Kapitalismus, sie zu bemänteln, weil den Massen die Bildung verwehrt war. Andererseits hat diese Bildung dazu geführt, dass sie heute optimal bemäntelt erscheinen. Ein Heer von Studierten, die die bürgerliche Ideologie verinnerlichten und unter die Massen tragen, sind die Grundlage für eine Pluralität in der Gesellschaft, die der sozialistischen Ideologie den Weg versperrt, wo die Realität sie nicht gerade überrollt. 

»Gebt Gott, was Gott gehört.« Dazu müsste man wissen, was Jesus seinerzeit unter Gott verstanden hat. Offensichtlich aber hat er einen Widerspruch zwischen »Gott« und dem Kaiser als etwas Nicht-Naturgegebenem oder Widernatürlichem aufgebaut. (Gott als alten weißen Mann darzustellen, steht nicht nur im Widerspruch zu »Du sollst Gott nicht festlegen.« in der Bibel, es markiert auch die Überhebung des Menschen zu Gott als Übereinkunft zwischen einem frühbürgerlichen Maler und dem Papst. Man kann dieses Bildnis, das ja ausgehend vom Petersdom in die Welt ging, also nicht auf die Zeit des Urchristentums übertragen, wo der Urkommunismus in Gestalt von Germanien samt naturverbundenem Aberglauben noch viel konfrontativer war.) »Gott wohnt in jedem Menschen« impliziert, dass jeder Mensch sein der Sklaverei vorausgegangenes Ich wiederentdecken kann. Mit solch Zuversicht kann man aus einem Kriegsverbrecher wie dem »Letzten Kaiser« einen nützlichen Gärtner machen oder? Nicht-Sklaven dazu zu bringen, sich vom Besitz zu trennen und Sklaven in die Freiheit zu entlassen, dürfte einer der Höhepunkte von Jesus Wirkens gewesen sein. Der Mittelstand macht das heutzutage irgendwie auch, aber doch eher unfreiwillig oder? Wenn heute Parteimitglieder ihr Millionenerbe in den Dienst der Sache stellen, anstatt sich ein schönes Leben zu machen, ist das ja auch einem Vertrauen in die Massen geschuldet und einem ideellen Wunsch nach Befreiung von Besitz und Ausbeutung. Die mittelalterliche Kirche missbrauchte die Selbstlosigkeit ihrer Schäfchen, um sich zu bereichern. Dabei häufte sie über aus dem Adel stammende Mönche und Nonnen nicht wenig Besitz an, bevor sie den von Luther kritisierten Ablasshandel erfand. Misst man Jesus an seinen Wirkungen, spricht doch wohl kaum etwas dafür, dass er im Sinne von »brav Steuern zahlen« unterwegs war. Vielmehr wollte er die auf die Urgesellschaft folgende Sklavenhalterordnung ins Gegenteil verkehren wie wir heute. Eine Gleichsetzung von Gott und dem Kaiser ist für mich aus dem Zitat nirgends ersichtlich. Vielmehr eine interpretative Antwort, die dem Umstand geschuldet ist, dass Jesus in eine Falle gelockt werden sollte und dass er sich dessen auch bewusst war. Hätte er sich mit seinem Anspruch auf die Wahrheit in der praktischen Frage des Steuernzahlens offen gegen die Besatzungsmacht gestellt, hätte man ihn womöglich schon ans Kreuz genagelt, bevor er in Palästina den Masseneinfluss erlangen konnte. Interessanterweise stellen ihm nicht die Römer diese Falle, sondern die angegriffenen Geistlichen und kollaborierenden Ausbeuter seiner eigenen Nation, um zu bewirken, dass er der Gerichtsbarkeit Roms anheimfällt und sie den Aufrührer los werden. Wegen seiner Beliebtheit im eigenen Volk wollten sie, um ihr Gesicht zu wahren, sich an Jesus nicht selbst die Finger schmutzig machen und stattdessen seinen Tod viel lieber auf das Konto des verhassten Roms gehen lassen, was später auch passierte. Faschistische oder querdenkerische Losungen wie »Steuern sind Raub« erwecken den Anschein von Opposition. Da wird jedoch pauschalisiert und ein Gemeinwesen verunmöglicht. Selbst der Sozialismus wird ohne eine Besteuerung nicht auskommen. Wir wissen, wie diese Besteuerung aussehen würde. Ich könnte mir vorstellen, dass Jesus, wenn er den Erfolg seines Handelns in die Zukunft gedacht haben sollte, einen Triumph von »Gottes Lohn« gegenüber den Münzen des Kaisers vor Augen hatte. Auf Kosten von Mensch und Natur der Gesellschaft mehr abzuverlangen, als für die unmittelbare Lebensführung im Sinne eines »Gotteslohnes« notwendig ist, nahm in der Sklaverei seinen Anfang. Wir beginnen doch gerade einmal, dies zu begreifen. Was würde denn ein Stefan Engel 'als Fleisch gewordene Dialektik' in der gleichen Situation seinem Klassenfeind als Wahrheit verkaufen? Würde er den Tod vor Augen eine interpretative Antwort geben wie zuvor Jesus oder nichts als die nackte Wahrheit? Eine solche nackte Wahrheit würde die Partei ideologisch enthaupten für einen Moment der Rechthaberei, die unter Ausbeutern nichts bewirkt hätte. Nach einer derartigen Gewichtung möchte ich den ersteren Weg für den dialektischeren halten oder?

Wenn es im RW darum ging, den feudalen Absolutismus quasi als Revisionismus des Urchristentums anzugreifen, gehe ich mit. Aber ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass hinter Jesus mehr steckt, als der Vatikan uns heute glaubhaft macht. Würde es Jesus nur um nationale Befreiung gegangen sein, wie deine Einschätzung "erster Befreiungskämpfer" nahelegt, hätte er sich wohl kaum auch die Kollaborateure in seiner Nation zum Feind gemacht und ins ganze Alte Rom ausstrahlen können. Andererseits hat er ja mal klein angefangen. Er konnte nicht wissen, welche Ausstrahlung er auf die Welt haben würde, und schon gar nicht, dass sein Anliegen von seinen Gegnern ins Gegenteil verkehrt - um nicht zu sagen - missbraucht werden würde. In einer Bibel-Verfilmung wird von Jesus' Gegnern offen eingestanden, dass sie Jesus als jemanden zu fürchten hätten, der im Volk Märtyrerstatus erlangen könnte. Es bestand folglich eine Notwendigkeit, diesen Märtyrerstatus in ihrem Sinne zu prägen.  Ghandi mag nur für Indien gestritten und der indischen Nationalbourgoisie das Wort geredet haben und doch strahlte er auf die ganze kolonisierte Welt aus. Ohne ihn gäbe es in Indien nicht die notwendige Arbeiterklasse, die in ihm heute aufbegehrt. Alles hängt mit allem zusammen und baut aufeinander auf, unabhängig von unserem Willen. Gleichermaßen steckt in Jesus das, was seine Gegner aus ihm machten, und das, was die Befreiungstheologen hervorrief, als der CIA-Faschismus kulminierte. Und tatsächlich mussten die USA in ihrem Hinterhof von der Gewalt zum Betrug zurückkehren, um ihre ökonomisch durchdrungenen, formal politisch unabhängigen Nekolonien wieder ausplündern zu können. Ein Ergebnis moralischer Unterlegenheit, die sich schon Ghandi zunutze machte, selbst wenn sie weder in Indien noch in Lateinamerika gleich einen Sozialismus hervorgebracht hätte. Ist die Ausbeutung durch bürgerlich-ideellen Kleister heute zu wenig greifbar, um ihr Unmoral zu attestieren? Der Imperialismus hat ideologisch aufgerüstet. Nachdem sich der feudale Gehorsam während der Novemberrevolution ins Gegenteil verkehrt hatte, bedienten sich die Nazis wie Napoleon oder die Sowjetunion einer Ideologie, um Massen zu bewegen. 

Bei der Gelegenheit muss ich mal eine Kritik los werden: Es wird mir zu viel Wert auf bloße Systemkritik gelegt. Wenn in der alten Gesellschaftsordnung schon die neue steckt, dann müssen wir die Keime des Kommunismus entdecken und fördern oder? 

Aus der Bibel geht hervor, dass Jesus die Unzulänglichkeiten seiner Jünger nicht verborgen blieben. So prophezeite er dem einen Jünger bei dem Abendmahl, dass er ihn verraten würde, und dem anderen, dass er ihn nicht nur einmal verleugnen würde. Warum sollte ein weiterer Jünger im Neuen Testament nicht falsch Zeugnis abgelegt haben? Der Fisch fängt vom Kopf her an zu stinken. Das kennen wir von den Revisionisten, die aus dem Marxismus-Leninismus herausgriffen, was ihnen gerade passte. Ein Mandela gab sich nach Jahren der Folter und der Haft damit zufrieden, dem Rassismus eine schwarze Regierung zu verpassen. Und auch der Führer der kurdischen Kommunisten schwankt unter dem Eindruck jahrzehntelanger Haft und auch Folter. Es wäre jedoch vermessen, Jesus seinerzeit oder Marx und Lenin heutzutage, diese personellen Abtrünnigkeiten anzulasten, wie das die Antikommunisten unbesehen tun, um sie auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen, auf den sie nicht gehören. Für mich wird der Kampf der Sklaven gegen die Sklavenhalter immer den gleichen Stellenwert haben wie der Kampf der Arbeiterklasse gegen die Kapitalisten. Ich kann und ich werde nicht auf sie als Primaten hinabschauen, nur weil sie ungebildet waren. Was immer aus dem frühen Christentum geworden ist, ein Gefühl der Wesensgleichheit mit dem Urchristentum und seinem Kampf befiel mich, als ich vor 35 Jahren die Bibel las. Weil: Während ich das tat, befreite ich sie von ihrem metaphysischen Unrat. Hätte die Kirche Gelegenheit gehabt, sie mir während einer Christenlehre einzubläuen, hätte ich womöglich opponiert und die Bibel verworfen. Eine "Religion" der Sklaven dialektisch zu vereinnahmen, erscheint mir logischer, als sie einfach zu verteufeln. Das tut der Trennung von Kirche und Staat keinen Abbruch. Wenn wir es jedoch verstehen, die "Religion" der Sklaven dialektisch zu vereinnahmen, sollten wir bessere Karten als die SED haben, mit christlichen Menschen eine Basis erarbeiten zu können. Unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg, als es um die nackte Existenz ging, haben die Massen in der DDR es geschafft, eine Sprache zu sprechen. Vielleicht war zu viel Pragmatismus im Spiel, um bestehen zu können, an Urvertrauen aber fehlte es nicht oder?

Abschließend muss ich mich dafür entschuldigen, (nicht nur) deine theoretische Arbeit in Gestalt des RW auf einen Passus heruntergebrochen zu haben. Dennoch hielt ich es für geboten, die 2000 Jahre zwischen »Sklave« und »Lohnsklave« zu vermitteln.  

Für deine erste Antwort danke ich dir.



Antwort Stefan Engel zum Brief vom 14. März 2025

Lieber Kollege,

vielen Dank für deinen erneuten Brief vom 14. März 2025 zum Thema Religion im Zusammenhang dem REVOLUTIONÄREN WEG 39. Ich möchte mich für die verspätete Antwort entschuldigen. Aber ich selbst und auch die anderen Mitarbeiter unseres theoretischen Organs sind schon intensiv mit weiteren Arbeiten am RW beschäftigt.

Es ist beeindruckend, wie gründlich du dich mithilfe des Marxismus-Leninismus und der dialektischen Methode durch die Kirchengeschichte hindurch arbeitest! Auf keinen Fall brauchst du dich dafür zu entschuldigen, dass du dich bei der Behandlung dieses Buches auf die Frage der Religion konzentrierst. Das ist völlig o. k. Meine Antwort kann nicht auf alles eingehen. Ich konzentriere mich auf einige Gesichtspunkte, die mir wichtig sind:

1. Wenn ich es richtig verstehe, ist dein Kerngedanke folgender: Das frühe Christentum und der tatsächliche Jesus waren mutige, gegen die damals vorherrschende Sklavenhaltergesellschaft rebellierende und fortschrittliche Leute. Deshalb schreibst du: »Was immer aus dem frühen Christentum geworden ist, ein Gefühl der Wesensgleichheit mit dem Urchristentum und seinem Kampf befiel mich, als ich vor 35 Jahren die Bibel las.« Gleichzeitig stellst du fest und bedauerst ein wenig, dass Jesus’ Lehren später verraten und verfälscht wurden.

Aus ähnlichen Gründen wie du hat sich auch Friedrich Engels mit dem Urchristentum befasst und geschrieben: »Die Geschichte des Urchristentums bietet merkwürdige Berührungspunkte mit der modernen Arbeiterbewegung. Wie diese, war das Christentum im Ursprung eine Bewegung Unterdrückter: es trat zuerst auf als Religion der Sklaven und Freigelassenen, der Armen und Rechtlosen, der von Rom unterjochten oder versprengten Völker. Beide, Christentum wie Arbeitersozialismus, predigten eine bevorstehende Erlösung aus Knechtschaft und Elend.« (»Zur Geschichte des Urchristentums«, Marx-Engels-Werke Bd. 22, Seite 449).

Entsprechend heißt es auch in unserem RW 39: »Die zentrale Figur Jesus wird überliefert als rebellischer Hoffnungsträger des Widerstands des Volks von Israel.« (S. 19). Nicht recht hast du mit deiner Interpretation, wir würden Jesus nur »als nationalen Befreier« sehen. Die Besonderheit des frühen Christentums und der Person Jesus - falls es ihn überhaupt als Person gegeben hat - liegt ja gerade drin, dass ihre Botschaft eine Befreiungsideologie für alle unterdrückten Klassen und Völker war, und daher auch Weltreligion werden konnte. Friedrich Engels in der gleichen Schrift dazu: »Der Glaube dieser kampfesfreudigen ersten Gemeinden ist ganz anderer Art als der der späteren siegreichen Kirche: neben dem Sühneopfer des Lamms sind die nahe Wiederkunft Christi und das in Kürze anbrechende Tausendjährige Reich sein wesentlicher Inhalt, und das, worin er sich allein bewährt, ist tätige Propaganda, unablässiger Kampf gegen den äußeren und inneren Feind, stolzfreudiges Bekennen des revolutionären Standpunkts vor den heidnischen Richtern, siegesgewiss am Märtyrertod.« (Seite 471) Aus diesem Grund wurde der Legende nach Jesus wie ein politischer Verbrecher hingerichtet, zog das frühe Christentum den Hass der römischen Herrscher auf sich und wurden die frühen Christen 300 Jahre lang unterdrückt und verfolgt.

Von der revolutionären Überzeugung »dieser kampfesfreudigen ersten Gemeinden« haben sich die Verfasser der Jahrzehnte nach Jesus geschriebenen »Evangelien« sowie insbesondere der »Apostel« Paulus als seine Nachfahren und Nachahmer recht bald entfernt, nachdem sie gemerkt hatten, dass das noch zu Lebzeiten der Urchristen versprochene und erwartete »Reich Gottes« auf Erden so schnell nicht kommt. Sie haben sich der römischen Sklavenhaltergesellschaft angepasst haben mit Sprüchen wie »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist«. Hier liegt inbesondere die Rolle von Paulus. Mit der Umwandlung zur Staatskirche im Jahr 380 nach unserer Zeitrechnung wurde diese zunächst widersprüchliche Tendenz im Christentum zur vorherrschenden Seite - ganz so wie du schreibst: »Kluge Vereinnahmung des wachsenden Christentums mit Pfründen für die Bischöfe, aber der Unterdrückung des ursprünglichen Freiheitswillens der frühen Christen.«

2. Du schreibst: »Misst man Jesus an seinen Wirkungen, spricht doch wohl kaum etwas dafür, dass er im Sinne von brav Steuern zahlen unterwegs war. Vielmehr wollte er die auf die Urgesellschaft folgende Sklavenhalterordnung ins Gegenteil verkehren wie wir heute. Eine Gleichsetzung von Gott und dem Kaiser ist für mich aus dem Zitat nirgends ersichtlich.«

Den ersten beiden Sätzen stimme ich zu. Das »brav Steuer zahlen« entsprang höchstwahrscheinlich schon der angepassteren Weltanschauung von Jesus’ Nachfolgern. Von daher macht es auch nicht viel Sinn zu spekulieren, aus welchen Gründen – eventuell nur aus taktischen Überlebensgründen – das Jesus angeblich getan hätte. Die »Gleichsetzung von Gott und dem Kaiser« war aber nicht nur bei Paulus, sondern ausgeprägter später bei Martin Luther mit seiner »Zwei-Reich-Lehre« wesentlicher Bestandteil des widersprüchlichen Charakters des Christentums.

Dann machst du einen gewagten Sprung von Jesus zu mir: »Was würde denn ein Stefan Engel 'als Fleisch gewordene Dialektik' in der gleichen Situation seinem Klassenfeind als Wahrheit verkaufen? Würde er den Tod vor Augen eine interpretative Antwort geben wie zuvor Jesus oder nichts als die nackte Wahrheit? Eine solche nackte Wahrheit würde die Partei ideologisch enthaupten für einen Moment der Rechthaberei, die unter Ausbeutern nichts bewirkt hätte. Nach einer derartigen Gewichtung möchte ich den ersteren Weg für den dialektischeren halten oder?«

Es ist eine grundsätzliche Frage der Denkweise und auch der jeweils konkreten Taktik, wie wir uns gegenüber der herrschenden Klasse und auch gegenüber den Massen verhalten: Grundsätzlich werden wir Kommunisten uns mit unserer revolutionären Denkweise nicht beugen. Das ist eine Frage der Prinzipienfestigkeit als Grundlinie unser Denkweise, nicht „der Rechthaberei“, wie du unterstellst. Eine andere Frage ist, dass es taktisch Situation geben kann, wo man den Klassenfeind auch bewusst anlügen muss (dafür gibt es z.B. in der Biografie von Willi Dickhut »So war’s damals …« viele Beispiele). Aber diesen Weg der bewussten taktischen Lüge generell »für den dialektischeren« zu halten ist auf keinen Fall richtig.

3. Mit deiner offensichtlichen Sympathie für das Urchristentum und die Person von Jesus beachtest du tendenziell zu wenig die Widersprüchlichkeit und Begrenztheit der urchristlichen Botschaft: Sie war Rebellion gegen die herrschenden Verhältnisse - aber eine idealistische. Dieser rebellische Grundgedanke, den auch die Befreiungstheologie nutzt, macht diese Strömung des Christentums einerseits heute noch gefährlich für die Herrschenden, gleichzeitig aber auch ungefährlich, weil diese Rebellion auf einer idealistischen Grundlage beruht und sie die Rebellion in die Sackgasse lockt. Darin liegt der wesentliche Unterschied zur Arbeiterbewegung - wie Engels schreibt: »Das Christentum setzte diese Erlösung in ein jenseitiges Leben nach dem Tod, in den Himmel, der Sozialismus in diese Welt, in eine Umgestaltung der Gesellschaft.« (S. 449) Das ist auch der Kerngedanke von Engels berühmter Schrift »Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft.«

Du schreibst wohl in diesem Sinn: »Eine ‚Religion’ der Sklaven dialektisch zu vereinnahmen, erscheint mir logischer, als sie einfach zu verteufeln.«

Natürlich verteufeln wir die Religion nicht, sondern negieren sie dialektisch, indem wir die idealistische Rebellion und Sehnsüchte vom Kopf auf die Füße stellen, vom Himmel in die Welt bringen. Dafür stehen die Klassiker des Marxismus-Leninismus, dafür steht der neue RW 39, dafür steht unsere Bündnispolitik »von Religion bis Revolution«. Aber diese dialektische Negation bedeutet auch – und dieser Aspekt kommt mir in deinem Brief etwas zu kurz, den weltanschaulichen Kampf gegen die idealistischen religiösen Lösungsvorschläge und Hoffnungen zu führen, wie sie aktuell zum Beispiel besonders durch den verstorbenen Papst verkörpert wurden und im Nachgang von den bürgerlichen Medien weltweit hochgejubelt werden.

4. Zum Verhältnis von Christentum und Revisionismus schreibst du: »Als FDJ-Sekretär nahm ich an einer SED-Sekretärssitzung teil, auf der nach Art eines Göbbels gegen jegliche Religion gewettert wurde. Zumal es sich um Menschen handelt, die die DDR nach dem Krieg mit aufbauten, empfand ich das als ungerecht. Und tatsächlich war das nicht immer so. Der Wechsel vom Sozialismus zum Revisionismus wirkte sich auch auf die DDR-Religionspolitik aus«. Das ist ein interessanter Aspekt, dass offensichtlich die dialektische Behandlung im Kampf um die Denkweise mit religiösen Menschen Opfer des dogmatischen Revisionismus wurde.

5. Du schreibst am Ende: »Bei der Gelegenheit muss ich mal eine Kritik los werden: Es wird mir zu viel Wert auf bloße Systemkritik gelegt. Wenn in der alten Gesellschaftsordnung schon die neue steckt, dann müssen wir die Keime des Kommunismus entdecken und fördern oder?«

Das letzte ist unbedingt richtig. Aber das behandeln wir in unserer Linie auch immer wieder ausführlich (siehe Partei-Programm, siehe »Morgenröte der internationalen sozialistischen Revolution« usw.. ). Aber du hast recht, dass wir immer darauf achten müssen, dass wir nicht einseitig bei der Negation des Kapitalismus stehen bleiben. Denn ohne positive Begeisterung für die Alternative des echten Sozialismus, dessen materiellen Grundlagen schon längst überreif sind, werden wir die Massen nicht gewinnen und begeistern können.

In diesem Sinne bedanke ich mich herzlich für deine kritische Auseinandersetzung

Mit revolutionären Grüßen



Stefan Engel