Willi Dickhut

Willi Dickhut

Die grundsätzliche und die konkrete Seite

Grundsätzliche Briefwechsel und Dokumente Willi Dickhuts 1983

Von RW-Redaktion
Die grundsätzliche und die konkrete Seite

Lieber Ra.! 5. 4. 83

Dein Brief vom 17. 3. 83 mit Stellungnahme an Klaus liegt vor mir. Das Kernstück der Kritik am Revolutionären Weg 22 (und den Nummern 20 und 21 des Revolutionären Wegs) ist die Methode des Herangehens: entweder mit der grundsätzlichen Seite oder, wie Du sagst, mit »Definitionen« beginnend, um dann zu der konkreten Seite überzugehen, oder umgekehrt mit der konkreten Seite anzufangen und mit der grundsätzlichen Schlußfolgerung zu enden. Du hältst die erstere für »eine grundsätzlich falsche Weise«. Du bist der Meinung, daß Du absolut recht hast und die Redaktion des Revolutionären Wegs eine falsche Auffassung vertritt. Das entspringt aber einem metaphysischen Denken. Ob mit der grundsätzlichen oder konkreten Seite begonnen wird, hängt von dem Gegenstand der Untersuchung und der taktischen Seite des Herangehens ab.

In einem früheren Gespräch mit mir begründetest Du Deinen Standpunkt mit Lenins »Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus«, der die Definition des Imperialismus am Schluß seiner Analyse brachte. Es war logisch und richtig, daß er zuerst jedes einzelne der fünf Merkmale des Imperialismus analysierte und dann das Ergebnis zusammenfaßte. Marx und Engels konnten zu ihrer Zeit eine solche Analyse noch nicht schaffen, weil erst um die Jahrhundertwende der Imperialismus als besonderes Stadium des Kapitalismus entstand. Lenin schrieb das Buch von Januar bis Juni 1916. Bevor es erschien, verfaßte Lenin von Januar bis Februar 1916 einen längeren Artikel »Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen«, wobei er mit einer kurzen Definition des Imperialismus begann (Bd. 22, S. 144), obwohl er seine ausführliche Analyse noch nicht beendet hatte. Im April erschien der Artikel auch in deutsch. Deiner Meinung nach müßte die erste Methode richtig, die zweite jedoch falsch sein.

In Lenins Werken, Band 3, »Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland«, behandelt Lenin im I. Kapitel die wesentlichen Merkmale des Kapitalismus und setzt sich grundsätzlich mit der falschen Theorie der Volkstümler-Ökonomen auseinander, wobei er die Ansichten von Karl Marx über Adam Smith und Proudhon zugrunde legt und durch Zitate aus Marx' »Kapital« erhärtet. Erst im II. Kapitel beginnt er mit der Analyse des Kapitalismus in Rußland. Deiner vorgefaßten Meinung nach hätte Lenin diese Ausführungen, die ja Deiner »Definition« entsprechen, als letztes Kapitel setzen müssen. Lenin hat aber seine eigene Methode.

Oder nimm Lenins Werk »Materialismus und Empiriokritizismus« (Bd. 14). Bevor er sich im Kapitel I mit den bürgerlichen Philosophien, insbesondere von Mach, auseinandersetzt, verteidigt er in »Statt einer Einleitung« den Materialismus gegen alle Versuche der idealistischen Philosophen, den Materialismus zu widerlegen. Er setzt sich dabei hauptsächlich mit den idealistischen Ansichten des Bischofs Berkeley, die er ausgiebig zitiert, auseinander. Er beginnt mit dieser grundsätzlichen Seite, weil diese Philosophie auch die philosophische Grundeinstellung der Machi-sten ist. Erst nach dieser grundlegenden Klarstellung geht Lenin zur Analyse der Philosophie der Machisten über, wörtlich: »Darauf reduziert sich ja die ganze Weisheit von Mach und Avenarius. Zur Analyse dieser Weisheiten gehen wir nun über.« Diese Methode ist aber Deiner absoluten Ansicht nach falsch.

Das unter Regie Stalins verfaßte Lehrbuch »Politische Ökonomie« enthält in der Einleitung eine Reihe Definitionen der politischen Ökonomie und zeigt ihren Klassencharakter auf. Von dieser grundsätzlichen Seite ausgehend, beginnt dann die Analyse der Produktionsweisen und der Klassenscheidung der menschlichen Gesellschaft. Es ist also eine durchaus gebräuchliche Methode, mit Definitionen, das heißt mit der grundätzlichen Seite, die sich auf den Marxismus stützt, zu beginnen.

Auch Mao Tsetung lehnt die Methode, mit der Definition zu beginnen, nicht ab. Im I. Kapitel von »Über den Widerspruch« beginnt er mit der Definition der zwei Arten der Weltanschauung, um dann die konkrete Seite des Widerspruchs zu analysieren.

Anders verfährt er zum Beispiel in der »Analyse der Klassen in der chinesischen Gesellschaft«. Hier hält er sich nicht mit einer einleitenden Definition auf, sondern beginnt und endet mit einer konkreten Klassenanalyse.

Ich will es bei diesen Beispielen bewenden lassen. Sie beweisen, daß es keine prinzipielle Angelegenheit ist, ob man mit der grundsätzlichen oder konkreten Seite beginnt. Ist die grundsätzliche Seite von unseren Klassikern erarbeitet, dann ist es in der Regel zweckmäßig, mit dieser grundsätzlichen Seite als Ausgangsbasis zu beginnen, um von diesem ideologisch-politischen Standpunkt aus die konkrete Seite zu analysieren. Das bedeutet, den Marxismus-Leninismus auf die heutige Situation anzuwenden und weiterzuentwickeln. Bei entgegengesetzter Verfahrensweise läuft man Gefahr, die grundsätzliche Seite vor lauter konkreter Einzelheiten aus dem Auge zu verlieren, das heißt, vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr zu sehen.

Ist aber eine bestimmte Sache, Erscheinung, ein neues Problem von unseren Klassikern noch nicht grundsätzlich erarbeitet worden, weil es etwas Derartiges in ihrer Zeit noch nicht gab oder weil es nur im Keim vorhanden war, zum Beispiel Automation, Elektronik, Umweltzerstörung und anderes, dann ist es zweckmäßig, die konkrete Seite zuerst zu analysieren, um dann das Ganze grundsätzlich zusammenzufassen.

Also: Ob mit der grundsätzlichen oder der konkreten Seite angefangen wird, ist keine Frage des Prinzips, sondern der Zweckmäßigkeit …

Du machst aber eine prinzipielle, dogmatische Sache daraus, und um Deinem Standpunkt Nachdruck zu verleihen, bringst Du ihn in arroganter, überheblicher Weise zum Ausdruck …

Mit revolutionären Grüßen
Willi



Lieber Willi, 17. 4. 83

Dein Brief vom 5. 4. 83 gab mir zu denken. Ich nehme Deine Kritik zum Anlaß, eine selbstkritische Auseinandersetzung zu beginnen.

Im ersten Teil Deines Briefs widerlegst Du, was Dir als »Kernstück« meiner Kritik an den Nummern 20 bis 22 des Revolutionären Wegs erscheint. Ich möchte darauf nicht inhaltlich eingehen, weil ich diese Kritik nicht mehr aufrechterhalte (vergleiche meine »Kritische Stellungnahme« Seite 2, 4/5 und 9/10). Es ist inzwischen auch meine Meinung, daß diese Kritik voreilig und einseitig war.

Stärker bewegt mich Deine Kritik an der Ursache des Fehlers, an meiner Denkweise. Seit ich die Vielzahl von Vorwürfen in Deinem Brief gelesen habe, ist mir klar, daß ich die Selbstkritik, die ich in meinem Brief vom 17. 3. 83 angeboten habe, unbedingt nachholen muß.

Ich bin einverstanden mit Deinem Urteil, daß ich eine dogmatische Haltung gezeigt habe. Woher kommt so etwas?

Eine Erklärung finde ich in meiner Entwicklung. Ich habe mich für den Marxismus-Leninismus interessiert, mich immer mehr in ihn vertieft und an ihm festgehalten, weil er mir Fragen beantwortete und selber zu beantworten half, die die bürgerliche Wissenschaft unbeantwortet ließ. In den bürgerlichen Sozialwissenschaften haben Definitionen und Beschreibungen herausragende Bedeutung, Erklärungen gesellschaftlicher Zusammenhänge oder Gesetze politischen Handelns kommen kaum vor. Darum wandte ich mich seit 1968 gegen die bürgerlichen Lehrbücher und marxistisch-leninistischen Schriften zu; der Marxismus-Leninismus wurde »meine Theorie«, weil ich in den Werken der Klassiker die Produktion der Wahrheit nachvollziehen lernte. Erkenntnisse, die nicht aus dem Studium der Wirklichkeit und aus dem Kampf gegen falsche Ansichten gewonnen sind, sondern nur von ändern als richtig vorausgesetzten Erkenntnissen abgeleitet, erscheinen mir seitdem als von geringem Wert.

Diese Einstellung hat bei meiner Beurteilung des Revolutionären Wegs mitgewirkt; aber das war insofern falsch, als der Revolutionäre Weg nicht in erster Linie methodisch, sondern in seiner Brauchbarkeit für den Klassenkampf beurteilt werden will. Ich aber war entfernt vom Klassenkampf.

Dein Vorwurf des Dogmatismus erscheint mir aber hauptsächlich deshalb als richtig, weil ich nun einsehe, wie stark ich mich mit den Nummern 20 bis 22 des Revolutionären Wegs vom Standpunkt des Theoretikers und nicht von dem des Politikers beschäftigte. Erst jetzt ist mir bewußt geworden, daß ich die Nummern des Revolutionären Wegs bisher überwiegend im ideologischen Kampf, kaum in der praktischen Politik genutzt habe. Sie sind aber als Lehrbücher fürs Handeln im Klassen- und Friedenskampf gemacht. Ich beurteilte sie wie Bücher fürs Selbststudium. Darin kommt der alte kleinbürgerliche Standpunkt zum Ausdruck (wie 1968, als ich zum erstenmal Lenin las): Ich will die Welt verstehen und verändern. Die Organisation und die Arbeiterklasse habe ich nicht zugleich im Blick. Meine Probleme waren eher theoretischer als praktischer Natur, Fragen der Dialektik bewegten mich mehr als Fragen der Taktik.

Es ist sehr wichtig für mich, diese Zusammenhänge klar zu bekommen. Denn daß mit einer dogmatischen Haltung keine brauchbaren Analysen auszuarbeiten sind, das weiß ich gewiß.

Ich stimme auch Deiner Kritik zu, daß ich eine arrogante Haltung gezeigt habe. Woher kommt so etwas?

Selbstüberschätzung ist eine Quelle. Ich habe die Nummern des Revolutionären Wegs so grundsätzlich kritisiert, als hätte ich den vollständigen Überblick über die Methoden marxistisch-leninistischer Werke. Dabei erfahre ich natürlich nicht erst aus Deinem Brief, sondern auch in der Praxis immer wieder die Grenzen meiner Kenntnisse. Zurückhaltung wäre richtiger gewesen: erst studieren, dann kritisieren.

Unter »Arroganz« fällt es auch, wenn ich Einzelprobleme herausgreife und kritisiere, ohne sie ins Verhältnis zur Leistung des ganzen Revolutionären Wegs zu setzen. Als ich den Abschnitt über psychologische Kriegführung im Revolutionären Weg 22 kritisierte, trat ich Euch als Wissender oder gar Besserwisser entgegen und nicht als Lernender oder Mitarbeiter. Diese Haltung ist falsch, auch wenn die einzelne Kritik richtig sein sollte.

Als Hauptsache erscheint mir wieder die Trennung von der Politik. Ich habe meine Kritiken auf Probleme gerichtet, die eher für mich als für die Arbeiterklasse wichtig sind. Es ging nur zum Teil um die Verbesserung der Politik der MLPD, immer war auch die Befriedigung meiner intellektuellen Bedürfnisse im Spiel: die Wahrheit ermitteln. Wenn es um die Verwirklichung der richtigen Politik geht, soll ein Kommunist vor keinem zurückscheuen, auch nicht vor der Redaktion des Revolutionären Wegs. Schädlich aber wird es, wenn der Streit um die Wahrheit nicht von Politik ausgeht und auf bessere Politik zielt.

So habe ich beim Revolutionären Weg 22 die Kritik an der Methode in den Mittelpunkt gerückt und bloß beiläufig angemerkt, daß wichtige Fragen der Friedensbewegung meiner Meinung nach nur unzureichend berührt sind (vergleiche meinen Brief vom 5. 9. 82). Wäre ich von unseren politischen Aufgaben im Friedenskampf ausgegangen und von den Problemen bei der Umsetzung, dann hätte ich vermutlich eher Kritiken zustandegebracht, die Euch als nützlich erschienen wären.

Ich erkenne jetzt, daß einige meiner Kritiken kleinbürgerlichen, nicht proletarischen Interessen ihre Entstehung verdanken …

Mit revolutionären Grüßen
Ra.



Zum Schluß bringen wir noch einen Briefaustausch, der auch zum Parteiaufbau gehört, denn es geht um die Gewinnung der Jugend, um die Zukunft der revolutionären Partei der Arbeiterklasse. Die Alten treten ab, die Jungen rücken nach.