Leseprobe

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Historisch bedingte und subjektive Fehler in Stalins Kampf gegen die Bürokratie

»Der weitere Inhalt der Kritik [am RW 7 – die Hrsg.] ist zum Teil berechtigt, es hätte ausführlicher die Frage beantwortet werden können,warum der Kampf gegen die Bürokratie keinen Erfolg hatte, aber hier beginnt eine Schwierigkeit, die leider aus unserer Sicht nicht beseitigt werden kann, ohne in Spekulationen zu verfallen. Richtig ist, daß die ideologische Erziehung der Massen in der Sowjetunion vernachlässigt wurde; das wird im Revolutionären Weg 8 an verschiedenen Stellen nachgewiesen. Sozialistisches Bewußtsein und Diktatur des Proletariats gehören zusammen. Der Erfolg der Großen Proletarischen Kulturrevolution war nur möglich, weil die Diktatur des Proletariats durch ideologische Erziehung und Festigung der Volksbefreiungsarmee vorher gesichert wurde. Stellen wir nun folgende Fragen:

  1. War in der Sowjetunion nicht schon vor dem Staatsstreich Chruschtschows die Diktatur des Proletariats untergraben worden?
  2. Wurde die ideologische Erziehung nicht nur vernachlässigt, sondern wurde nicht vielmehr schon vor Stalins Tod das sozialistische Bewußtsein der Massen systematisch durch die Bürokratie ausgehöhlt?
  3. Hat Stalin sich vielleicht deswegen nur auf den Staatssicherheitsapparat verlassen, weil ihm die Massen entglitten waren?

Wir können diese Fragen nicht eindeutig beantworten. Jede Antwort ist Spekulation. Sicher ist nur, daß Mao Tsetung bei der Idee der Großen Proletarischen Kulturrevolution das negative Beispiel der Entartung der Bürokratie zur konterrevolutionären Bourgeoisie vor Augen hatte, was Stalin eben nicht haben konnte. Darin liegt der historisch bedingte Fehler Stalins.Was Stalin aber wußte und was auch von ihm des öfteren ausgesprochen wurde, war die Forderung Lenins, die Massen zum Kampf gegen die Bürokratie einzusetzen. Daß Stalin das nicht tat, sondern nur den Staatssicherheitsdienst einsetzte, war sein subjektiver Fehler. Daraus kann man aber nicht schließen, daß die Entwicklung der Bürokratie zur neuen bürgerlichen Klasse und die Restauration des Kapitalismus unvermeidlich gewesen seien und der Aufbau des Sozialismus in einem Land unmöglich sei. Das wäre eine defätistische Auffassung … Unvermeidlich in jedem sozialistischen Land (auch bei einer ›permanenten‹ Revolution) ist, daß sich die Bürokratie aus der Masse heraushebt und sich über die Massen zu stellen versucht. Diese Tendenz läßt sich durch folgende Maßnahmen bekämpfen:

  1. Wirkliche Ausübung der Diktatur durch Organe des Proletariats.
  2. Systematische Hebung des sozialistischen Bewußtseins der Massen durch unermüdliche kommunistische Erziehung.
  3. Erziehung der Bürokratie durch die Massen, indem jeder nach bestimmter Zeit an der Basis in der Produktion unter den gleichen Bedingungen wie jeder andere Arbeiter auch arbeiten muß.
  4. Sollte trotzdem die Bürokratie eine Gefahr für den Sozialismus werden, muß eine Kulturrevolution durchgeführt werden.

Die Mängel in der Darlegung der Entwicklung der Bürokratie zur neuen herrschenden Bourgeoisie könnten ohne weiteres behoben werden, wenn wir die oben angeführten drei Fragen einwandfrei beantworten könnten. Dazu reichen unsere Kenntnisse aus der damaligen Zeit nicht aus. Ich war 1928/29 rund acht Monate in der Sowjetunion und war schon damals in einem Betrieb den Machenschaften der Bürokratie erlegen. Doch aufgrund dieser geringen Erfahrung kann ich die Fragen nicht beantworten. Selbst in dem Aufruf der verfolgten Bolschewiken in der Sowjetunion gibt es keinen Hinweis, der auf diese Fragen Antwort gibt. Man kann wohl Vermutungen anstellen, aber die reichen nicht aus, um eine historische Situation einwandfrei zu klären. Das ist späteren Geschichtsschreibern, die über umfangreiches Material, das uns verschlossen ist, verfügen, vorbehalten. Was wir können, ist die Entwicklung in groben Zügen aufzuzeigen, um die Tatsache der Liquidierung des Sozialismus in der Sowjetunion zu erklären. Die Etappen der Liquidierung aufzuzeigen war schon einfacher.«

Briefwechsel über Fragen der Theorie und Praxis des Parteiaufbaus, 1984, S. 37/38