Leseprobe
Die Stalinfrage: Verdienste primär, Fehler sekundär
»Eure Diskussion über die Stalinfrage mit dem Ziel, eine grundsätzliche Klärung herbeizuführen, kann zu keinem Ergebnis führen, weil einfach das dazu notwendige Material fehlt; selbst die Kommunistische Partei Chinas ist nicht in der Lage, gegenwärtig die Stalinfrage restlos zu klären. Erst wenn die Archive der Sowjetunion geöffnet würden, könnte das aufklärende Material verarbeitet werden. Auch der programmatische Aufruf der revolutionären Kommunisten der Sowjetunion, der die Stalinfrage ziemlich ausführlich behandelt, ist nur auf die Verteidigung Stalins gegen die modernen Revisionisten ausgerichtet – und das war notwendig.
Ihr schreibt: ›Wir meinen, daß zur Person Stalins nicht immer hart und konsequent argumentiert wird.‹ Dazu sind wir weder in der Lage (denn eine solche Kritik muß fundiert sein) noch als kleine Gruppe autorisiert. Das kann nur von einer internationalen Kommission gemacht werden, die über alles notwendige Material verfügt.Wir können nur von dem ausgehen, was uns zur Verfügung steht, und das ist geschehen.Wenn wir sagen, die Fehler Stalins waren ›historisch bedingt‹, so bedeutet das keine Abschwächung der Kritik an Stalin, sondern eine Erklärung, soweit sie uns möglich erscheint.
Die Rückständigkeit des Landes, das Übergewicht kleinbürgerlicher Schichten, der verschärfte Klassenkampf gegen die innere und äußere Bourgeoisie mußten notwendigerweise durch die stärkste Zentralisierung der Staatsmacht als Hauptseite der proletarischen Demokratie ausgedrückt werden. So entwickelte sich ›historisch bedingt‹ ein mächtiger Staatssicherheitsdienst. Stalins Fehler war, daß er sich immer mehr auf den Staatssicherheitsdienst verließ.Auch das kam nicht von ungefähr, denn Stalin verfolgte die Hauptträger der kleinbürgerlichen Ideologie im Land, die sich maskierten, ihr Gesicht veränderten, sich der Situation anpaßten, sie bildeten eine Art ›fünfte Kolonne‹. Durch den Staatssicherheitsdienst wurden sie verfolgt, entlarvt und durch die ›Moskauer Prozesse‹ verurteilt. So notwendig das war, damit trat der Staatssicherheitsdienst immer mehr in den Vordergrund, auch im Kampf gegen eine neue Bürokratie, eine mit dem Parteibuch in der Tasche, die durch eine kleinbürgerliche Lebensweise verbunden mit Privilegien entartete. Diese Entwicklung wurde durch die zentralistische Planwirtschaft, durch die eine breite Mitwirkung der Massen verhindert wurde, und durch den Rückgang der Verbreitung der sozialistischen Ideologie in den Massen beschleunigt und vertieft.
Soweit läßt sich die Entwicklung in der Sowjetunion unter Stalin von unserer Warte aus erklären – alles weitere ist Spekulation. Manche Vorgänge können wir als Außenstehende nicht verstehen, ohne daß dadurch eine ›konsequente Weiterführung der Argumentation‹ verhindert wird. Manche Ursachen werden nie aus den Akten ergründet werden …
Ich versuche immer wieder zu ergründen, wieso ganze kommunistische Parteien (bei Einzelpersonen ist das klar) wie zum Beispiel die KPD, der ich vor 50 Jahren beitrat, revisionistisch entarten konnten.Als ich in der Kaderabteilung tätig war, habe ich Tausende Genossen für die verschiedenen Lehrgänge der Parteischulen geprüft, ihre ideologische Entwicklung verfolgt und ihren Einsatz entsprechend ihrem ideologischen Niveau vorgeschlagen. Sie haben doch alle eine bestimmte, wenn auch unterschiedliche Grundlage des Marxismus-Leninismus erhalten und Erfahrungen im Kampf gesammelt.Warum machen sie den revisionistischen Kurs mit? Sie können doch unmöglich in das Wesen des Marxismus-Leninismus eingedrungen sein, sonst müßten sie diese revisionistische Linie verurteilen. Mit der subjektiven Erklärung: ›Es sind alles Verräter!‹ ist das Problem nicht gelöst …
Was die Stalinfrage anbelangt, kann sie heute nicht restlos geklärt werden.Wir haben im Revolutionären Weg 7–9 als einzige Organisation den Versuch einer Analyse der Restauration des Kapitalismus in der Sowjetunion gemacht und, soweit wie es uns möglich war, die Rolle Stalins zu erklären versucht. Euer Verlangen, Stalins Fehler stärker herauszuarbeiten, ›hart und konsequent zu argumentieren‹, ist für uns unmöglich, ohne in Spekulationen zu verfallen. Das ist auch gegenwärtig falsch, weil uns das im Kampf gegen den Revisionismus, die gegenwärtige Hauptgefahr innerhalb der Arbeiterbewegung, nur ablenken würde.
Stellen wir die Verdienste und Fehler Stalins nebeneinander, dann sind die Verdienste primär, seine Fehler sekundär. Wir haben keine Ursache, das umzudrehen, denn das würde Wasser auf die Mühlen der Revisionisten leiten.«
Briefwechsel über Fragen der Theorie und Praxis des Parteiaufbaus, 1984, S. 147–150