Leseprobe

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Einleitung

Der dritte Band der Buchreihe »Die Krise der bürgerlichen Ideologie und die Lehre von der Denkweise« befasst sich mit der Krise der bürgerlichen Naturwissenschaft. Das mag manche überraschen, werden doch Naturwissenschaftler allgemein als neutrale Experten betrachtet, die nur den objektiven Tatsachen verpflichtet sind. Sie genießen besonders hohes Ansehen in der bürgerlichen Gesellschaft, weil sie den Eindruck erwecken, unpolitisch, unanfechtbar oder ausschließlich dem gesellschaftlichen Fortschritt verpflichtet zu sein. Gegenüber der herrschenden bürgerlichen Ideologie hat sich überall auf der Welt in den letzten Jahren ein kritischer Geist entfaltet, kaum jedoch noch gegenüber den Naturwissenschaftlern!

Die Rolle von Naturwissenschaft und Technik ist im Alltag der Gesellschaft deutlich gewachsen. Schulen und Universitäten, aber auch Literatur, Musik, Filme, Wissenschafts­magazine, Ratgeber, Gesundheitskurse, Radio und Fernsehen oder Internet verbreiten zuweilen wertvolle und durchaus materialistische Informationen über wissenschaftliche oder technische Entwicklungen. Allerdings trüben allerlei idealistische und metaphysische Deutungen, unwissenschaftliche Begriffe und systemkonforme Handlungsanleitungen ihren Wahrheitsgehalt.

Auf diese Weise dringt auch die klassenfremde bürgerliche Ideologie in die Denk-, Arbeits- und Lebensweise der Arbeiterklasse ein. Die vermeintlich »ideologiefreien« Wissenschaften beeinflussen besonders die kleinbürgerliche Intelligenz sowie die lernende und studierende Jugend.

Die Kritik an der bürgerlichen Ideologie und der Nachweis ihrer Krise wären unvollständig, würden sie neben den Inhalten nicht auch ihre manipulativen Methoden unter die Lupe nehmen.

Es geht in diesem Buch nicht darum, den gesamten Inhalt und Umfang der modernen Naturwissenschaften zu analysieren oder einen abgehobenen akademischen Disput zu führen. Es liegt uns erst recht fern, die materialistischen Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschungen in Bausch und Bogen zu verdammen. Im Fokus der Kritik stehen die krisenhaften, schädlichen Rückwirkungen der bürgerlichen Ideologie auf den Fortschritt der Naturwissenschaften. Sie untergraben tendenziell die Wissenschaftlichkeit, hemmen die gesamtgesellschaftliche Entwicklung und haben gravierende negative Folgen für Mensch und Natur. Die dialektische Kritik und Selbstkritik zielt darauf, einer dialektisch-materialistischen Naturwissenschaft als fundamentalem Bestandteil des wissenschaftlichen Sozialismus den Weg zu bereiten. Die Marxisten-Leninisten verteidigen entschieden den wissenschaftlichen Fortschritt gegen die Wissenschaftsfeindlichkeit der bürgerlichen Ideologie mit ihrem Positivismus und Pragmatismus, ihrer antikommunistischen und profitorientierten Ausrichtung.

Im Gegensatz dazu gehört die reaktionäre Feindseligkeit gegen jeden gesellschaftlichen Fortschritt zur weltanschaulichen Grundlage der ultrareaktionären oder neofaschistischen gesellschaftlichen Bewegungen. Diese offene Feindseligkeit wiederum lässt die Naturwissenschaften in einem fortschrittlichen Licht erscheinen. Dieselben dunklen Kräfte, die heute eine besondere Wissenschaftlichkeit für sich in Anspruch nehmen, berufen sich oft auf Erkenntnisse der von ihnen betriebenen Pseudowissenschaften. Ihre Methoden reichen von absurdem Eklektizismus über metaphysische Verdrehung und Leugnung von Tatsachen bis zu bewussten Lügen und allerlei mystischen Verschwörungstheorien.

Das Buch behandelt eingangs Aufschwung und Niedergang der bürgerlichen Naturwissenschaft. Die moderne Naturwissenschaft war bei der Überwindung des Feudalismus eines der fortschrittlichen und vorwärtstreibenden Elemente der entstehenden kapitalistischen Gesellschaft. Die aufklärerische bürgerliche Ideologie hat das Kulturniveau der Menschheit auf eine neue Ebene gehoben, die Entwicklung der kapitalistischen Industrieproduktion beschleunigt und wesentlich geprägt. Zugleich ist die moderne Naturwissenschaft selbst Produkt dieser stürmischen Entwicklung. Doch der vorherrschende Einfluss von Idealismus und Metaphysik steht einem einheitlichen dialektisch-materialistischen Weltbild direkt entgegen. Die modernen Naturwissenschaften sind infolgedessen in eine tiefe Krise geraten.

Die bürgerliche Astronomie trug einst zur Befreiung von einem religiös-idealistischen Weltbild bei. Heute werden immer fantastischere Vorstellungen über das Universum – von der quasi-religiösen Schöpfungsgeschichte des Urknalls bis hin zu fiktiv konstruierten Parallelwelten – als wissenschaftlich gelehrt. Dabei halten sie keiner wissenschaftlichen, keiner materialistischen Betrachtung stand. Angesichts einer materialistisch geführten Kritik daran, auch aufgrund immer neuer Entdeckungen im Kosmos, versinkt die bürgerliche Astro­nomie immer tiefer im Absurden.

Trotz einer Fülle neuer Einzelerkenntnisse kann sich die theoretische Grundlage der Biologie nicht weiterentwickeln, weil idealistische und metaphysische Deutungen vorherrschen. Längst sind die außerordentlichen sozialen und geistigen Fähigkeiten der Menschen wissenschaftlich nachgewiesen. Die Erkenntnis über das soziale Wesen des Menschen unterstreicht, dass eine kommunistische Gesellschaft möglich und notwendig ist. Darüber muss die gesellschaftliche Aus­einandersetzung erst noch ausgetragen werden.

Die bürgerliche Umweltforschung reduziert die Entwicklung der globalen Umweltkatastrophe immer mehr auf die Klimafrage. Die globale und universelle, die systemische Dimension der Krise der Biosphäre wird demgegenüber weitgehend ausgeblendet. Inzwischen ist die globale Umweltkrise in die globale Umweltkatastrophe übergegangen, ohne dass die in positivistischer Denkweise befangenen bürgerlichen Ökologen das bemerkt haben.

Das bürgerliche Ingenieurwesen hat die Entwicklung der modernen Produktion enorm vorangetrieben. Seine geradezu konzeptionelle weltanschauliche Trennung von Theo- rie und Praxis, programmatischer Positivismus und Pragmatismus haben es jedoch besonders rigoros der kapitalistischen Profitwirtschaft untergeordnet und es deformiert. Seine tiefe Krise äußert sich heute vor allem in dem Desaster unnützer Großprojekte und einem allgemeinen Raubbau an der natürlichen Umwelt.

Trotz aller unstrittigen Fortschritte und sinnvollen Maßnahmen wird die bürgerliche Medizin der enormen Zunahme von Massenkrankheiten nicht gerecht. Stattdessen lenkt sie das gewachsene Umwelt- und Gesundheitsbewusstsein der Massen auf allerlei individualistische Abwege. Nach wie vor fehlt eine ganzheitliche, dialektisch-materialistisch fundierte Analyse und Synthese der gesellschaftlichen und individuellen Krankheitsursachen. Nur aus der Erkenntnis der komplexen Zusammenhänge von menschlichem Leben und natürlichen und gesellschaftlichen Bedingungen erwachsen tatsächliche Lösungsansätze. Nur so kann auch eine in sich geschlossene Wissenschaft der Medizin entstehen und sich auf Basis der Vielfalt einzelner Erkenntnisfortschritte entwickeln.

Die bürgerliche Psychologie führt psychische Massen­erkrankungen vielfach einseitig auf einschneidende oder traumatische Erlebnisse in der individuellen Lebensgeschichte oder auf genetische Ursachen zurück. Selbst wenn sie gesellschaftliche Ursachen in gewissem Ausmaß anerkennt, orientiert sie therapeutisch einseitig vor allem auf die individuelle Bewältigung der negativen Auswirkungen der Erkrankung. Statt die vielfältigen materiellen Ursachen für die Störung des menschlichen Stoffwechsels, ihre Wechselwirkungen mit der kapitalistischen Produktion, der Umweltkrise, der bürgerlichen Staats- und Familienordnung und den individuellen Lebenserfahrungen zu erforschen, lenkt sie von den objektiven Gesetzmäßigkeiten und notwendigen gesamtgesellschaftlichen Veränderungen ab. Einseitig fokussiert sie sich auf die subjektive Empfindung und Deutung der Probleme, was in vielen Fällen kaum zu einem Heilerfolg führt oder gar die Krankheit verschärft.

All die Krisenentwicklungen des imperialistischen Weltsystems auf weltanschaulichem, ökonomischem, ökologischem und politischem Gebiet sind Ausdruck des Grundwiderspruchs in der historischen Umbruchphase vom Kapi­talismus zum Sozialismus, der zur Lösung drängt. Das bürgerliche Krisenmanagement ist letztlich nichts als der untaugliche Versuch, die zum Sozialismus drängenden revolutionären Produktivkräfte, die wachsende Kapitalismuskritik und das Aufbegehren der internationalen Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten aufzuhalten. Wissenschaftlich begründeter Optimismus und überzeugende Zukunftsvisionen in der revolutionären und Arbeiterbewegung bekommen in dieser gesamtgesellschaftlichen Auseinandersetzung strategische Bedeutung!

Es ist unverzichtbar, das materialistisch begründete freie Denken in der Arbeiterklasse allgemein wiederzubeleben und zu verbreiten. Das ist eine Voraussetzung für die Überwindung jedes religiösen, metaphysischen und idea­listischen Denkens, damit ihr Klassenbewusstsein erwacht und sich entwickelt.

Für die Menschheit ist es geradezu existenziell, dass weltweit der wissenschaftliche Sozialismus und seine dialektisch-materialistische Methode in Theorie und Praxis neues Ansehen gewinnen im Denken, Fühlen und Handeln der Arbei­ter und der breiten Massen. Nur so wird die Menschheit in die Lage versetzt, alle Errungenschaften der modernen Natur­wissenschaften von ihren reaktionären Fesseln zu ­befreien und sie sich für den gesellschaftlichen Fortschritt zu eigen zu machen. Umgekehrt werden die modernen Natur­wissenschaften im Wechselverhältnis mit dem wissenschaft­lichen Sozialismus Schritt für Schritt ihre Wissenschaftlichkeit zurückgewinnen und den unaufhaltsamen Erkenntnisfortschritt über die universelle Wirklichkeit beflügeln.

So ist dieses Buch eine Streitschrift, die die Arbeiterklasse herausfordert, sich im Bündnis mit fortschrittlichen Studierenden und Wissenschaftlern die führende Rolle in der welt­anschaulichen Kritik an der bürgerlichen Naturwissenschaft zu erobern. Es ist auch eine Aufforderung an die fortschrittlichen Intellektuellen, sich von den herrschenden Monopolen, ihrer Politik und Weltanschauung, ihrer Denkweise und ihrer privilegierten Lebens- und Arbeitsweise zu lösen und sich der noch unterdrückten, aber einzig revolutionären Arbeiterklasse anzuschließen.

Angesichts der immer komplizierter werdenden Zusammenhänge und neu aufgeworfener Fragen in Natur und Gesellschaft muss das ideologisch-politische und wissenschaftliche Niveau in der Arbeiterklasse und ihrer revolutionären Partei zielstrebig erhöht werden.

Obwohl sich das Buch mit der Naturwissenschaft befasst, richtet es sich ausdrücklich auch an Leserinnen und Leser, die sich bisher noch wenig mit diesem Thema beschäftigt haben. Möglicherweise werden nicht alle von Anfang an den ganzen Text verstehen. Davon sollte sich niemand entmutigen lassen! Alle werden in diesem Buch auf Anhieb und erst recht bei gründlicher Beschäftigung, gemeinsamem Studium und in der Diskussion interessante Anregungen und Erkenntnisfortschritte erleben, ihren Horizont erweitern und Antworten auf bisher unbeantwortete Fragen bekommen. Nicht zuletzt werden alle – ob Arbeiter, Akademiker oder Jugendlicher – ihr Kulturniveau erhöhen und Anregungen für eine kritische Haltung gegenüber der bürgerlichen Naturwissenschaft und für das wissenschaftliche Arbeiten erhalten.

Leserinnen und Leser können durchaus auch mit einzelnen, ihnen besonders interessant erscheinenden Abschnitten beginnen. Empfehlenswert ist aber auf jeden Fall, zunächst die zusammenfassende Einleitung und den Abschnitt über Aufschwung und Niedergang der bürgerlichen Naturwissenschaft zu lesen.

Dieses Buch ist einmal mehr Produkt der kollektiven Weisheit eines großen Teams sachkundiger, kritischer und wissenschaftlich denkender und handelnder Arbeitergenossen und gesellschaftskritischer Akademiker. Alle sind vereinheitlicht auf die dialektisch-materialistische Methode, mit der sie die Naturwissenschaften betrachten. Bei allen Mitarbeite­rinnen und Mitarbeitern möchte ich mich ausdrücklich für die fruchtbare Zusammenarbeit bedanken. Dazu gehören unter anderem Dr. Günther Bittel, Herbert Buchta, Adelheid Erbslöh, Oskar Finkbohner, Prof. Christian Jooß, Christoph Klug und Prof. Josef Lutz. Für den mitunter komplizierten Prozess der Diskussion, Ausarbeitung und Schriftleitung möchte ich besonders die Zusammenarbeit mit Monika Gärtner-Engel und Gabi Fechtner hervorheben.

Das Buch ist meinem treuen Mitkämpfer, langjährigen Freund, Genossen und Arzt Anton »Toni« Lenz gewidmet, der seine Mitarbeit besonders im Bereich der Medizin aufgrund einer schweren und unheilbaren Erkrankung nicht mehr zu Ende führen konnte. Er verstarb am 23. Januar 2023.

Stefan Engel, Februar 2023