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7.1. Die offene Weltkrise

Mit dem Ukrainekonflikt brach eine offene politische, ökonomische, ökologische und militärische Weltkrise aus. Diese neue Ausgangslage verändert schlagartig die Aufgabenstellung des revolutionären Klassenkampfs.

  1. Politisch kommt die offene Weltkrise in einer universellen und unkontrollierten Störung des bis dahin multipolaren Gefüges zum Ausdruck. Das stellt die bestehende imperialistische Weltordnung und ihre Institutionen elementar infrage. Die mühsam formulierten Paragrafen des Völkerrechts, der Menschenrechte und der international gültigen Abrüstungsverträge waren schlagartig das Papier nicht wert, auf dem sie standen. Internationale Organisationen wie die UNO, die NATO oder auch die EU gerieten aufgrund des aufbrechenden Antagonismus[148] der nationalen Interessen einzelner Länder in mehr oder weniger offene Krisen. So verweigerten 53 der 193 Mitgliedsstaaten der UNO am 24. März 2022 einer Resolution der Vollversammlung über die sofortige Einstellung der Feindseligkeiten Russlands gegen die Ukraine ihre Zustimmung.[149] Ausgerechnet die USA, die heute noch weltweit Kriegstreiber Nr. 1 sind, bringen als Alternative zur paralysierten UNO die Gründung einer US-dominierten »Allianz der Demokratien« ins Gespräch.[150]
  2. Ökonomisch entstand auf Basis der 2018 ausgebrochenen und sich inzwischen weiter vertiefenden Weltwirtschafts- und Finanzkrise eine offene Krise der Neuorganisation der internationalen Produktion.
  3. Der offene Welthandel ist infrage gestellt. Ein Handelskrieg brach aus, er steigerte sich durch die Sanktionen gegen Russland zu einem Weltwirtschaftskrieg, in den unmittelbar oder mittelbar mehr oder weniger alle imperialistischen Länder verwickelt sind.
  4. Ökologisch besteht der qualitative Sprung darin, dass die sogenannte »Sicherheitspolitik« ausdrücklich der bisher praktizierten Umweltpolitik übergeordnet wird. Diese Ausrichtung verschärft mit dem imperialistischen Krieg dramatisch alle Seiten des Übergangs in die globale Umweltkatastrophe.
  5. Die militärische Weltkrise bringt die internationale Diplo­matie und ihre bisherige Prämisse des Pazifismus und des imperialistischen Friedens zum Scheitern. An ihre Stelle tritt die mehr oder weniger offene aktive Vorbereitung nahezu aller Imperialisten auf einen Dritten Weltkrieg.
  6. Das steht in Verbindung mit einer massiven Rechtsentwicklung von der Faschisierung der Staatsapparate bis hin zum Übergang zum Faschismus in einer Reihe von Ländern.
  7. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten bereiten sowohl Russland als auch die USA/NATO einen Atomkrieg aktiv vor, bringen ihn gezielt in die Diskussion und nehmen die Gefahr kühl in Kauf.
  8. Der Übergang zur aktiven Vorbereitung eines Weltkriegs verschärft auch in Deutschland die gesellschaftlichen Wider­sprüche sowohl innerhalb des deutschen Finanzkapitals als auch in Regierung und bürgerlichen Parteien. Auch die Krise des Vertrauens der Massen in Regierung und bürgerliche Parteien wächst.
  9. Die Krise der bürgerlichen Weltanschauung vertieft sich, vor allem als offene Krise fundamentaler Lebens­lügen. Sie galten bisher als unumstößlich, etwa die von der »auf Frieden zielenden Außenpolitik«, vom »Wandel durch Handel« oder die zahlreichen Varianten des imperialistischen Ökologismus. Neu aufgelegte Lebenslügen der Bundesregierung wie das Versprechen einer »sozial-ökologischen Transformation« verschleißen schon kurz nach ihrer Erfindung.
  10. Die bisherigen Krisen verschärfen sich gegenseitig: die Weltwirtschafts- und Finanzkrise, verschiedene Strukturkrisen im Reproduktionsprozess, die Verschuldungskrise, der beschleunigte Umschlag in die globale Umweltkatastrophe, die Krise der bürgerlichen Flüchtlingspolitik und die Krise der bürgerlichen Familienordnung, die Hungerkrisen in immer mehr Ländern, die drastisch zunehmende Inflation oder soziale Krisen im Weltmaßstab. Sie verdichten sich zu einer internationalen Tendenz gesamtgesellschaftlicher Krisen in den meisten Ländern der Welt.
  11. Der Grundwiderspruch unserer Epoche zwischen Kapi­talismus und Sozialismus drängt im internationalen Maßstab akut zur Lösung. Das ist die objektive Grundlage des Übergangs zum Klassenkampf im eigentlichen Sinn.

Lenin schrieb über die allgemeinen Merkmale einer revolutionären Situation:

»Wir gehen sicherlich nicht fehl, wenn wir folgende drei Hauptmerkmale anführen: 1. Für die herrschenden Klassen ist es unmöglich, ihre Herrschaft unverändert aufrechtzuerhalten; die eine oder andere Krise der ›oberen Schichten‹, eine Krise der Politik der herrschenden Klasse, die einen Riß entstehen läßt, durch den sich die Unzufriedenheit und Empörung der unterdrückten Klassen Bahn bricht. Damit es zur Revolution kommt, genügt es in der Regel nicht, daß die ›unteren Schichten‹ in der alten Weise ›nicht leben wollen‹, es ist noch erforderlich, daß die ›oberen Schichten‹ in der alten Weise ›nicht leben können‹. 2. Die Not und das Elend der unterdrückten Klassen verschärfen sich über das gewöhnliche Maß hinaus. 3. Infolge der erwähnten Ursachen steigert sich erheblich die Aktivität der Massen, die sich in der ›friedlichen‹ Epoche ruhig ausplündern lassen, in stürmischen Zeiten dagegen sowohl durch die ganze Krisensituation als auch durch die ›oberen Schichten‹ selbst zu selbständigem historischem Handeln gedrängt werden.«[151]

Den Übergang von der Etappe der nichtrevolutionären Situa­tion in die Etappe der akut revolutionären Situation leiten zunächst vor allem die objektiven Faktoren ein. Die Übereinstimmung des subjektiven Faktors mit den objektiven Faktoren erfolgt nicht schlagartig, sondern entwickelt sich aufgrund der krisendämpfenden Maßnahmen und der Manipulation der öffentlichen Meinung als mehr oder weniger lange dauernder, erst politischer, dann revolutionärer Gärungsprozess. Die Entfaltung einer revolutionären Weltkrise hängt maßgeblich von der Entwicklung des Klassenbewusstseins des internationalen Industrieproletariats ab. Dieses muss die Fähig­keit erwerben, seine Kämpfe international zu koordinieren und zu revolutionieren, und sich an die Spitze des aktiven Widerstands der Volksmassen stellen. Entscheidender Faktor für Zielstrebigkeit, Tiefgang und Stabilität dieses Prozesses ist die Entstehung und Stärkung marxistisch-leninistischer Parteien mit gesamtgesellschaftlichem Einfluss.

Die revolutionäre Wachsamkeit muss jedoch auch mit der Möglichkeit rechnen, dass sich eine reaktionäre oder gar faschistische Basis unter Teilen der Massen mit niedrigem Bewusstsein entwickelt. Darin zeigt sich der zugespitzte Wider­spruch auf weltanschaulichem Gebiet zwischen reaktionärem Antikommunismus und zukunftsweisendem wissenschaftlichen Sozialismus.

Niemand kann den konkreten Verlauf des imperialistischen Kriegs in der Ukraine vorhersehen. Aber die bewusste Verschärfung des Kriegs durch die Kriegsparteien und auch seine Eigendynamik lässt den militärischen Schlagabtausch auf den Übergang in einen Dritten Weltkrieg hinauslaufen. Dem liegt eine Gesetzmäßigkeit zugrunde, die bereits Clausewitz aufdeckte:

»Der Krieg ist ein Akt der Gewalt, und es gibt in der Anwendung derselben keine Grenzen; so gibt jeder dem anderen das Gesetz, es entsteht eine Wechselwirkung, die dem Begriff nach zum äußersten führen muß.«[152]

Es gibt in dieser Phase der beschleunigten Destabilisierung des imperialistischen Weltsystems grundsätzlich nur zwei Optionen: Ausbruch eines Dritten Weltkriegs oder die internationale sozialistische Revolution.

Diese Einschätzung folgt den Gesetzmäßigkeiten der gesell­schaftlichen Entwicklung und kritisiert die penetrante Verharmlosung der Schärfe dieser Entwicklung in der öffentlichen Meinungsmache. Es ist auch möglich, dass diese Phase durch den Widerstand der Massen, aufgrund von Widersprüchen zwischen den Imperialisten oder wegen der Kapitulation der einen oder anderen Kriegspartei gestoppt wird. Selbst dann gäbe es aber kein einfaches Zurück mehr zu der Zeit vor dem Ukrainekrieg. Solange jedoch diese Phase dauert, muss sich die allgemeine Strategie und Taktik der internationalen sozialistischen Revolution gegen die akute Gefahr eines Dritten Weltkriegs richten. Sie stellt sich das Ziel, im Weltmaßstab den Übergang von der Etappe der nichtrevolutionären Situation in die Etappe der revolutionären Situation zu beschleunigen. Die aktive Vorbereitung des Weltkriegs durch die imperialistischen Regierungen, die beschleunigte Umweltzerstörung und die Abwälzung der Krisen- und Kriegslasten auf die Massen werden diese zunehmend in offenen Widerspruch zum imperialistischen Weltsystem bringen und ihre Kämpfe herausfordern.

Die Marxisten-Leninisten auf der ganzen Welt müssen alles in ihrer Macht Stehende tun, um die offene Krise des imperialistischen Weltsystems für eine Revolutionierung des internationalen Industrieproletariats und der breiten Massen zu nutzen.