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6. Der Übergang des Opportunismus zum Sozialchauvinismus

Seit Anfang 2022 begann weltweit die Manipulation der öffentlichen Meinung mit psychologischer Kriegführung, um die Massen für einen imperialistischen Krieg zu gewinnen.

Mit Beginn des Ukrainekriegs bekam der länderübergreifende Sozialchauvinismus als Rund-um-die-Uhr-Beeinflussung eine neue Dimension. Jedes imperialistische Land forcierte über seine monopolisierten Massenmedien einen regelrechten Krieg zur Desinformation bis hin zur offenen Kriegshetze. Das Buch »Die Krise der bürgerlichen Ideologie und des Opportunismus« weist nach:

»In Krisen, wenn deren Kosten und Lasten auf die Massen abgewälzt werden, wenn die Bourgeoisie revolutionäre Entwicklungen bekämpft oder auf Kriegskurs ist – kurz: Wenn sich die Widersprüche verschärfen, geht der Opportunismus gesetzmäßig in Sozialchauvinismus über. Seine Leitlinie ist die Propagierung der vollständigen Unterordnung der Arbeiterklasse unter die nationalen Klasseninteressen der Bourgeoisie.«[128]

Auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 19. Februar 2021 – bereits ein Jahr vor dem Ukrainekrieg – schwor der Präsident der USA, Joe Biden, die USA und andere impe­ria­listische NATO-Staaten auf »das Eintreten für die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine« ein.[129] Biden hat die »America first«-Politik von Donald Trump nicht etwa aufgegeben, wie die meisten bürgerlichen Analysten beschönigen, sondern er hat sie zu einer Strategie und Taktik des hegemonialen Machtanspruchs der USA systematisiert. Um diesen Kern zu vertuschen, verkauft er das Projekt mit chauvinistischer und sozialchauvinistischer Heuchelei als Einsatz für die westlichen Demokratien.

Das führte zu einer neuen Stufe der Verbreitung der kleinbürgerlich-sozialchauvinistischen Denkweise: Die internationale Arbeiterklasse möge sich tunlichst patriotisch mit der imperialistischen Ausbeutung und Kriegstreiberei im eigenen Land identifizieren. Statt ihre proletarischen Klasseninteressen zu verfolgen, sich am aktiven Widerstand gegen die Vorbereitung des Dritten Weltkriegs zu beteiligen und sich der Vorbereitung der internationalen sozialistischen Revolution zuzuwenden, solle sie sich mit dem »kleineren Übel« abfinden: der »Demokratie« des US-amerikanischen oder westeuropäischen Imperialismus, der vermeintlich so viel besser sei als der russische oder chinesische.

Auch der russische Präsident Wladimir Putin schürte schon lange vor dem Überfall auf die Ukraine die kleinbürgerlich-sozialchauvinistische Denkweise der Massen in Russland. In einem Artikel »Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern« verbreitete er mit völkischer Demagogie:

»Russen, Ukrainer und Weißrussen sind alle Nachkommen der alten Rus, die der größte Staat Europas war.«[130]

Mit solchem großrussischen Chauvinismus bereitete Putin nicht nur den Einmarsch in die Ukraine weltanschaulich vor, sondern auch weitere Eroberungsfeldzüge. Dabei übersah er in seinem völkisch-nationalistischen Wahn die historische Tatsache, dass die Kiewer (alte) Rus ein Zusammenschluss vor allem ukrainischer Stämme zu einem feudalen Staat war. Später pressten die russischen Zaren die nichtrussischen Völker und Gebiete in ihr Reich und machten Russland zu einem Völkergefängnis.

Allen, die eine der beiden kriegführenden imperialistischen Parteien verteidigen, sei ins Stammbuch geschrieben, was ­Lenin unmissverständlich über die irreführenden Erklärungen zur Entstehung imperialistischer Kriege bemerkte:

»Die Frage, welche Gruppe den ersten militärischen Schlag geführt oder als erste den Krieg erklärt hat, ist bei der Festlegung der Taktik der Sozialisten ohne jede Bedeutung. Die Phrasen von der Verteidigung des Vaterlandes, von der Abwehr eines feindlichen Überfalls, vom Defensivkrieg usw. sind auf beiden Seiten reiner Volksbetrug.«[131]

Die Propagandamaschinerie des US-Imperialismus wirkt vor allem über den Nachrichtensender CNN International in 212 Ländern auf mehr als eine Milliarde Menschen ein.[132] Über Russia Today (RT), Sputnik und durch gezielt verbreitete Botschaften in »sozialen Netzwerken« – »Troll-Armee« genannt – glorifizieren die russischen Neuimperialisten ­ihren Angriffskrieg in über 100 Ländern.[133] RT hat allein in Lateinamerika fast 30 Millionen Follower. Die »deutschen … Sichtweisen«[134] verbreitet besonders die Deutsche Welle in 32 Sprachen unter 289 Millionen »User-Kontakten« auf vier Kontinenten.

Journalisten aus aller Welt berichten von früh bis spät »live« mitten aus dem Kriegsgeschehen: Schreckensbilder zerbombter Häuser, verstörter ukrainischer Kinder und Fotos von Gräueltaten der russischen Armee, Interviews mit Betroffenen – all das erweckt den Eindruck, objektiv informiert und hautnah am Geschehen zu sein. Nie erfährt man dabei etwas über die ukrainischen Militäreinsätze, außer dass die Soldaten »heldenhaft« Widerstand leisten.

Dabei setzen die Medien vorrangig auf die Mobilisierung der Gefühle. Waffenlieferungen wurden unversehens zu ­einer rein moralischen Frage und zum alternativlosen Ausdruck von Mitgefühl, Empathie und Solidarität.

Neu in Deutschland war eine allgemeine Militarisierung der Nachrichten und Talkshows. Wie selbstverständlich gaben hochrangige Militärs täglich Interviews und bezogen die Massen in die strategischen Überlegungen des Kriegskurses des deutschen Imperialismus ein. Über Wochen verbannte die bürgerliche Medienzensur Vertreter jeglicher kritischer, fortschrittlicher oder pazifistischer Sicht. Waren sie vereinzelt zugelassen, wurden sie in der Regel als »Freunde Putins« niedergemacht. Die »kritischen Nachfragen« der Moderatoren von Talkshows kamen meist von rechts. Sie transportierten überwiegend kritiklos die anheizerische Stimmungsmache Wolodymyr Selenskyjs und seines Botschafters in Deutschland, Andrij Melnyk, für massive Waffen­lieferungen.

Mit dem Übergang auf den sozialchauvinistischen Kurs entfalteten sich in allen reformistischen Parteien krisenhafte Prozesse: »Die Grünen« versprachen noch in ihrem Programm zur Bundestagswahl 2021, »europäische Rüstungsexporte … in Kriegsgebiete (zu) beenden.«[135]

Doch die neue Regierungsverantwortung verlangte, die Änderung der Strategie der deutschen Außenpolitik »zu gestalten«. Als einer der größten Scharfmacher entpuppte sich ­Anton Hofreiter, zuvor bekannt als Exponent des »linken« Flügels der »Grünen«. Er verlangte vom deutschen Imperialismus als Antwort auf die »rücksichtslos-brutale Art« des russischen Neuimperialismus die »Realpolitik in ihrer brutalsten Ausprägung«.[136] Sein reaktionärer Pragmatismus verwandelte den ehemaligen Anti-Atomkraft-Kämpfer[137] Hofreiter in kürzester Zeit in einen hemmungslosen Kriegstreiber.

Ehrlich besorgt und berechtigt, doch erfolglos, warnten 89 Mitglieder der »Grünen« die Parteiführung: »Was macht ihr bei weiterer Eskalation … ? Setzt dann die NATO Atomwaffen gegen Russland ein?«[138]

Die linksreformistische Partei »DIE LINKE« taumelte in eine Existenzkrise, nachdem ihre jahrelange Verharmlosung des neuimperialistischen Russlands offen gescheitert war. In der Partei tobten die Widersprüche über das Aufrüstungsprogramm der Bundesregierung, das – entgegen dem Abstimmungsverhalten der Bundestagsfraktion – einige führende Repräsentanten eifrig mittrugen.

So sagte Bodo Ramelow/»DIE LINKE«, Ministerpräsident Thüringens, auf einer Friedensdemonstration am 2. März 2022 in Gera: »Wir sind im Krieg … Jetzt heißt es militärisch zu handeln.«[139] Vehement kritisierte er die immer noch zahlreichen Kriegsgegner in seiner Partei: »Einfach nur Nato-Bashing löst da ja gar kein Problem.«[140]

Ein »linker« Ministerpräsident demonstriert so seine Nibelungentreue zum deutschen Imperialismus. Ohne Hemmungen legte er am 14. Januar 2019 mit breiter Medienpräsenz ein Blumengesteck am Grab Karl Liebknechts, des Mitbegründers der KPD, nieder.[141] Untrennbar mit Liebknecht verbunden ist der heute hochaktuelle Satz: »Diesem System keinen Mann und keinen Groschen!«

Die Verbreitung des Chauvinismus geht so weit, dass sogar in oft als linksliberal betrachteten Medien der Faschismus massiv verharmlost wird. So bekam der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk am 20. Mai 2022 ein ganzseitiges Interview mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland, in dem er das faschistische Asow-Regiment als völlig harmlos und »mutige Kämpfer«[142] darstellen konnte. Wohlgemerkt ein Regiment, das faschistische SS-Symbole verwendet, seit 2014 an Kriegsverbrechen gegen Menschen im Donbass beteiligt ist und dessen erster Kommandeur Andrij Bilezkyj sich noch vor wenigen Jahren offen faschistisch und antisemitisch zum »Kreuzzug« der »weißen Rassen der Welt … gegen die semitisch geleiteten Untermenschen«[143] bekannte. Hauptfinanzier des Asow-Regiments ist der zweitgrößte ukrainische Monopolkapitalist und Oligarch Ihor Kolomojskyj, der auch Selenskyjs Wahl entscheidend unterstützte[144] und ihn in seinem privaten TV-Sender 1+1 erst groß machte.

Finnlands NATO-Beitritt wird in Talkshows gebetsmühlenartig gerechtfertigt: dafür spreche auch die Geschichte des 1939/40 schon einmal heldenhaft geführten Kriegs Finnlands gegen die Sowjetunion. Damals hatte sich die reaktionäre finnische Regierung – allerdings im Auftrag profaschistischer und imperialistischer Regierungen – geweigert, ernsthaften Verhandlungen mit der sozialistischen Sowjetunion über, für die Sowjetunion unbedingt notwendige und für Finnland vorteilhafte, Grenzkorrekturen zuzustimmen. Dabei ging es um den Schutz vor allem Leningrads vor der bevorstehenden Invasion der Hitler-Faschisten. Finnland hatte stattdessen russische Grenztruppen überfallen. Die Sowjetunion verzichtete nach dem Sieg über das vom erzreaktionären General Mannerheim geführte finnische Militär auf eine Besetzung des Landes. Das »dankte« die finnische Regierung nur ein Jahr später mit der Beteiligung an Hitlers faschistischem Krieg gegen die Sowjet­union.

Nur der proletarische Klassenstandpunkt hilft als Kompass, die mit viel Pathos verbreiteten chauvinistischen, sozialchauvinistischen und antikommunistischen Argumente zu durchschauen und die richtigen Schlüsse zu ziehen. Mit zunehmender Kriegsdauer wächst auch die Stimmung gegen den Krieg und seine Ausweitung. Mitte März 2022 stimmten in Umfragen noch 67 Prozent der Bevölkerung Deutschlands den Waffenlieferungen an die Ukraine zu.[145] Schon am 3. Mai sprachen sich nur noch 46 Prozent für die Lieferung von Offensivwaffen aus.[146] Verstärkt melden sich kritische Stimmen zur NATO und gegen die Kriegspolitik der Bundesregierung zu Wort.

Die Herrschenden vermögen nicht, die Massen dauerhaft für den imperialistischen Krieg zu gewinnen! Auch nicht mit ihrer Behauptung, Waffenlieferungen zu verweigern sei »unterlassene Hilfeleistung« und überlasse das ukrainische Volk dem ungezügelten Wüten des russischen Aggressors! So kompliziert die Lage auch immer ist, Kriege imperialistischer Nationen und ihrer Bündnisse wurden noch nie mit dem Ziel der Hilfe und Solidarität für die Völker geführt! Dazu gibt es nur eine Alternative: den revolutionären Kampf der Ausgebeuteten und Unterdrückten dieser Länder, sowohl der Ukraine als auch Russlands, gegen ihre Regierungen, die diesen Krieg mit dem Ziel der Vernichtung der jeweiligen Feinde führen. Mitten im Ersten Weltkrieg legte Lenin der inter­natio­nalen Arbeiterklasse eine Einsicht für den welt­anschaulichen Kampf gegen Opportunisten und Sozial­chauvinisten ans Herz:

»Die Bürgerlichen wie auch ihre Nachtreter in der Arbeiterbewegung … stellen die Frage gewöhnlich so: Entweder erkennen wir die Pflicht der Landesverteidigung grundsätzlich an, oder wir machen unser Land wehrlos. Diese Fragestellung ist total falsch. In Wirklichkeit steht die Frage so: Entweder wir lassen uns für die Interessen der imperialistischen Bourgeoisie abschlachten, oder wir bereiten die Mehrheit der Ausgebeuteten wie auch uns selbst systematisch dazu vor, … den Kriegen überhaupt ein Ende zu machen.«[147]