1.5. Das reaktionäre Wesen der ukrainischen Gesellschaft
Die Ukraine verfügt inzwischen über wesentliche Voraussetzungen, sich zu einem neuimperialistischen Land zu entwickeln. Sie ist das zweitgrößte Land Europas mit umfangreichen Bodenschätzen, großen Flächen fruchtbarer Schwarzerde, einer gut ausgebildeten Arbeiterklasse und zum Teil staatlichen, zum Teil in den Händen von Oligarchen[18] konzentrierten Monopolen. Die Ukraine wurde direkt an der Grenze des russischen Imperialismus zu einer ernsthaften Konkurrenz.
Vor allem die USA haben die Ukraine nach der Annexion der Krim durch Russland massiv hochgerüstet und militärisch ausgebildet. Ukrainische Truppen nahmen an gemeinsamen NATO-Übungen teil. Die Rüstungsausgaben der Ukraine stiegen zwischen 2012 und 2021 um 142 Prozent.[19] Anfang 2019 nahm das ukrainische Parlament das Ziel, der NATO und EU beizutreten, in die Verfassung auf. Im August 2021 erklärte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in chauvinistischem Übermut, von nun an laufe der »Countdown für die De-Okkupation« der Krim.[20]
Im April 2022 stilisierte Ursula von der Leyen/CDU, Präsidentin der EU-Kommission, vor versammelter Weltpresse den ukrainischen Präsidenten Selenskyj zum Helden im Kampf um Freiheit und Demokratie hoch:
»Wir stehen an eurer Seite, wenn ihr von Europa träumt … Meine heutige Botschaft lautet, dass die Ukraine zur europäischen Familie gehört.«[21]
Während unter der Oberfläche der europäischen Familienidylle ein Hauen und Stechen herrscht, gibt es in der umworbenen Ukraine in Wirklichkeit keinen wesentlichen Unterschied zu den Realitäten der Oligarchie in Russland. Noch 2020 hatte das bürgerliche »Demokratie-Ranking« der Universität Würzburg die Ukraine als »hybrides Regime« zwischen »Demokratie« und »Autokratie« noch hinter den »defizitären Demokratien« eingestuft.[22]
So besitzt der reichste Mann der Ukraine, Rinat Achmetow, ein Privatvermögen von 7,6 Milliarden US-Dollar. Als langjähriger Putin-Freund unterstützt er nunmehr NATO und EU zur Rettung seines Imperiums, in dem sich »Stahl- und Röhrenwerke, Kohleminen, Heizkraftwerke, Windparks, Firmen der Telekommunikation, eine Reederei, Banken, Versicherungen, Fernsehsender, Zeitungen, Kaufhäuser, Logistikzentren, Landwirtschaftsbetriebe und Schachtar, der Klub seines Herzens«, befinden.[23] Andere »Größen« sind »der Reeder Andri Stawnizer oder der Agrarindustrielle Wadim Nesterenko.«[24] In der westlichen Berichterstattung sind diese Oligarchen hinter der Lichtgestalt Selenskyj nahezu unsichtbar. Am 23. Februar 2022, einen Tag vor dem Einmarsch Russlands, schworen die 50 reichsten Monopolherren der Ukraine und Selenskyj einander, »alles zu tun, um die nationale Einheit zu stärken und eine Besetzung des Landes zu verhindern.«[25]
Die Aussichten für ein in NATO und EU integriertes, »befreites« Volk der Ukraine sind wohl wenig paradiesisch. Das zeigt die Realität anderer Länder, die bereits in den »Genuss« dieser Befreiung kamen: zerbombte Städte in Serbien nach dem NATO-Krieg 1999, die neokoloniale Unterwerfung und Integration großer Teile des Balkans in den EU-Imperialismus, freie Bahn für die Taliban-Herrschaft in Afghanistan; Armut, Chaos und Korruption im von der EU protegierten[26] Kosovo[27], Förderung von Monopolen, Oligarchen und rechten Regierungen als deren Statthalter in Polen oder Ungarn, grassierende Armut und Ausverkauf öffentlichen Eigentums durch von der EU diktierte Krisenprogramme in Griechenland. Die Aufnahme der Ukraine in die NATO und EU wäre kein Akt der Menschenliebe, sondern ist für die westlichen Imperialisten deshalb so wertvoll, weil sie eine erhebliche Schwächung des russischen Imperialismus darstellen und den eigenen Bündnissen mehr Gewicht verleihen würde.