Rote Fahne 03/2022
Gesundheitsbeschäftigte gegen Pflegenotstand
Es ist absurd: Noch nie gab es so viele medizinische Erkenntnisse, Behandlungs- und Pflegemöglichkeiten wie heute.
Und doch ächzt der Pflegebereich in Kliniken und Altenheimen unter Personalmangel, kaum erträglichen Arbeitszeiten, mangelnder Bezahlung und bürokratischen Vorgaben. Pflegekräfte sind um rund ein Drittel häufiger krank als der Durchschnitt der Bevölkerung1, nicht wenige kündigen – und das mitten in der Corona-Pandemie, wo sie dringend gebraucht werden. Die Pandemie hat den bestehenden Pflegenotstand und die Krise der kapitalistischen Gesundheitspolitik verschärft und wie in einem Brennglas sichtbar gemacht. Wie passt das alles zusammen und was ist zu tun?
Wenn es um Gründe für den Pflegenotstand geht, muss häufig die fehlende „gesellschaftliche Wertschätzung“ herhalten. So kann man auf der Webseite des Bundesgesundheitsministeriums lesen: „Die gesellschaftliche Wertschätzung eines Berufs hängt stark von der Fähigkeit ab, eigenes Handeln und dafür benötigte Kompetenzen in der Öffentlichkeit verständlich zu beschreiben. Studien haben gezeigt, dass Pflege- und Altenpflegefachkräfte ihre Tätigkeit häufig negativ und ihre fachliche Expertise nicht angemessen darstellen.“ Ist das nicht der Gipfel? Die Pflegekräfte sind selbst schuld an geringer Wertschätzung und niedrigen Löhnen! Fazit: Stellt euch besser dar und schon klappt es mit der gesellschaftlichen Wertschätzung. Dabei hat gerade die Corona-Pandemie gezeigt, dass die Masse der Bevölkerung größten Respekt vor den Pflegekräften hat. Völlig respektlos verhält sich dagegen die Klinikleitung des Prosper-Hospitals in Recklinghausen, die die ver.di-Vertrauensfrau Kristin Zuber strafversetzte, weil sie eine arbeitschutzgerechte Umsetzung der FFP2-Maskenpflicht verlangte.
Es ist für das Finanzkapital unerheblich, ob die für sie arbeitenden Menschen Autos herstellen, Lebensmittel produzieren oder Menschen pflegen. Der durchschnittliche Preis eines Altenheimplatzes liegt bei etwa 4000 Euro im Monat. Wenn ein Haus 100 Betten hat, sind das 400.000 Euro monatlich. Das Gehalt einer Fachkraft in der Altenpflege liegt nach der Ausbildung bei maximal 3200 Euro brutto. Geht man von einer Personaldecke von 40 Beschäftigten bei 100 Betten aus, macht das eine Gehaltssumme von 128.000 Euro – also nur nur einen Bruchteil dessen, was der Konzern daran verdient. So beläuft sich der offiziell ausgewiesene Gewinn des Klinikkonzerns Helios 2020 auf 666 Millionen Euro.2 Immer mehr in der Pflege Beschäftigten werden zu einem Teil des Industrieproletariats und werden wie dieses ausgebeutet und unterdrückt. Das massenfeindliche Gerede von „fehlender gesellschaftlicher Wertschätzung“ ist ein Ablenkungsmanöver von den eigentlichen Ursachen des Pflegenotstands und der Krise des kapitalistischen Gesundheitssystems.
„Wachstumstreiber“ für Finanzinvestoren
Eine wesentliche Ursache für die Schließung von Krankenhäusern, unzureichende Personalschlüssel und in der Folge häufige ungeplante Wochenenddienste, Arbeitsüberlastung und schlechte Bezahlung liegt in der Erschließung des Gesundheitswesens als Quelle für Maximalprofit der internationalen Übermonopole. Sie hat ihren Ausgangspunkt in der Neuorganisation der internationalen kapitalistischen Produktion seit Beginn der 1990er-Jahre. Gesundheit, Pflege, Bildung, Kinderbetreuung – alles wurde auf die Erschließung neuer Anlagemöglichkeiten für überschüssiges Kapital der Monopole durchforstet.
Dem diente auch die Einführung der Pflegeversicherung durch die CDU/FDP-Regierung unter Kanzler Helmut Kohl 1995. In Erwartung eines staatlich gesicherten und steigenden Geldsegens konnten private wie gemeinnützige Heimbetreiber Versorgungsverträge mit den Pflegekassen abschließen. Das war eine weltweite Entwicklung und wurde zum Eldorado für internationale Finanzinvestoren. In Spanien sind schon mehr als 80 Prozent aller Pflegeeinrichtungen in der Hand von privaten Unternehmen. In Großbritannien sind es 76 und in Deutschland bereits 43 Prozent.
In den Kliniken war die Einführung der Fallpauschalen durch die Schröder/Fischer-Regierung im Jahr 2003 Hebel zur Privatisierung. Während die Bevölkerung erwartet, dass nach dem Grundsatz „Was ist gut für den Patienten“ behandelt wird, verstärken Fallpauschalen das Prinzip „Was bringt uns der Patient“. Arztpraxen und Krankenhäusern stehen je nach Diagnose nur noch fixe Beträge zu. So bringt eine Operation bei einem Beinbruch mehr Geld für eine Klinik als das Anlegen eines Gipsverbandes. Gesundheit wird zur Ware! Auf diese Weise sind Gesundheitskonzerne entstanden. Deutschlands größter ist Fresenius SE & Co. KAaG mit einem Umsatz von 35,5 Milliarden Euro und 294.000 Beschäftigten.
Unwissenschaftliche bürgerliche Medizin
Eine wesentliche Ursache für den wachsenden Pflegenotstand und die Krise des Gesundheitswesens ist die unwissenschaftliche, metaphysische Methode der bürgerlichen Medizin. Trotz einer Unmenge von Einzelerkenntnissen ist sie nicht in der Lage, die allseitigen Zusammenhänge von Gesundheit, Krankheit, Umwelt, Ernährung und Arbeit wissenschaftlich zu erfassen. Viel Wissen macht noch lange keine Wissenschaft aus! So unterschied schon Friedrich Engels zwischen Wissen, also empirisch begründeten Einzelerkenntnissen, und Wissenschaft. Er stellte klare Kriterien für den qualitativen Sprung von Wissen zu Wissenschaft auf: „Die zahllosen, durcheinander gewürfelten Data der Erkenntnis wurden geordnet, gesondert und in Kausalverbindung gebracht; das Wissen wurde Wissenschaft, die Wissenschaften näherten sich ihrer Vollendung, d.h. knüpften sich auf der einen Seite an die Philosophie, auf der andern an die Praxis an.“3
Die „Schulmedizin“ diagnostiziert in erster Linie mit positivistischen Methoden. Stefan Engel geht darauf in dem neuen Buch „Die Krise der bürgerlichen Ideologie und des Opportunismus“ ein: „Kommt ein Patient ins Krankenhaus, weil er starke Schmerzen verspürt, muss er wie bei einer Rasterfahndung eine Reihe von Einzeluntersuchungen nach dem Ausschlussverfahren der Falsifizierung über sich ergehen lassen: Blutuntersuchung, Ultraschall, MRT, Magen- oder Darmspiegelung, Herzkatheter und so weiter. Jede dieser Untersuchungen beantwortet nur, ob eine Diagnose zutrifft oder nicht – nach der Methode ja, nein – was darüber ist, ist von Übel. Kompliziertere oder seltene Erkrankungen können mit einer solchen positivistischen Untersuchungsmethode kaum aufgefunden werden.“4
In der Praxis der Pflege und im Gesundheitswesen wirkt sich das als ausgeprägter Pragmatismus aus, der vor allem auf Versuch und Irrtum beruht. Die Suche nach einer Krankheitsursache wird dann zum Marathon durch Facharztpraxen und belastet zunehmend die im Gesundheitssystem Beschäftigten. Statt Prävention herrscht oft nur die unmittelbare Reaktion auf einzelne Symptome vor, verbunden mit einem Wust von bürokratischen Tätigkeiten wie Dokumentationen, die von der eigentlichen Pflegetätigkeit abhalten. In der fünften Coronawelle mit der Omikron-Variante starren bürgerliche Politiker und ein Teil der Virologen nur noch auf die augenblicklich niedrigen Einweisungen in die Intensivstationen. Gleichzeitig verzichten sie auf die Vorbereitung darauf, dass die rasant steigenden Infektionszahlen trotz eines geringeren Prozentsatzes schwerer Verläufe schnell die Krankenhauskapazitäten sprengen können.
Medizin als umfassende Humanwissenschaft, die die Beziehungen Mensch – Umwelt – Gesellschaft und den dialektischen Zusammenhang von Psyche und körperlichen Funktionen erfasst, ist nur denkbar befreit vom Diktat der Profitwirtschaft und den Fesseln der bürgerlichen Ideologie. Sie wird es erst in einer sozialistischen Gesellschaft auf der Grundlage einer dialektisch-materialistischen Weltanschauung geben, die jedem Subjektivismus und Positivismus eine Absage erteilt.
„Bedarfsgerechte“ Gesundheitsversorgung und Verbesserung der Arbeitsbedingungen?
„Wir verbessern die Arbeitsbedingungen der Gesundheitsberufe und Pflegekräfte“, verspricht die Ampel-Regierung im Koaltionsvertrag. Sie muss dabei auf die wachsende Kritik der im Gesundheitswesen Beschäftigten und der breiten Massen reagieren. So verspricht sie:
Abbau der Lohndifferenz von rund 500 Euro zwischen der Bezahlung in den Kliniken und den Altenheimen. Offen bleibt, wie sie das umsetzen will. Die Einführung eines allgemeinverbindlichen Tarifvertrags in der Altenpflege war bereits 2021 am Einspruch der Caritas gescheitert.
Verbindliche Personalbemessungen in Kliniken und Pflegeheimen, als Übergangsinstrument kurzfristige Einführung der Pflegepersonalregelung 2.0.5 Die Vorstandsvorsitzende des Gesetzlichen Krankenversicherung gkv, Doris Pfeifer, dazu: „Wie viele Pflegekräfte dann konkret pro Schicht am Bett arbeiten, bleibt jedoch völlig offen.“6 Und was ist die Anwerbung ausländischer Pflegekräfte anderes als dort den Notstand zu organisieren und in übelster Weise die dort dringend benötigten Fachkräfte abzuziehen?
Bereitstellung von einer Milliarde Euro für einen neuerlichen Pflegebonus. Dass Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) den Bonus nur an „besonders belastende Pflegekräfte“ zahlen wollte, stieß prompt auf Widerstand von Beschäftigten und ver.di.
Bei all dem hält die Ampel-Regierung an der grundsätzlichen Ausrichtung des Gesundheitswesens zur Gewinnmaximierung fest. So soll das System der Fallpauschalen nur angepasst, aber nicht abgeschafft werden. Nebulös kündigte die Regierung eine Regierungskommission zur „weiterentwickelten Finanzierung“ der Krankenhäuser an. 2019 vertrat Karl Lauterbach: „Jeder weiß, dass wir in Deutschland mindestens jede dritte, eigentlich jede zweite Klinik schließen sollten.“ Eine Anfrage bei der Pressestelle des Gesundheitsministeriums, wie Karl Lauterbach seine Aussagen heute einordnet, blieb unbeantwortet …7 Um mit den veränderten Methoden der neuen Regierung – gerade auch in der Gesundheitspolitik – fertigzuwerden, braucht es vor allem Organisiertheit sowie Durchblick über die Hintergründe und internationalen Zusammenhänge.
Bewusstseinsbildung und Organisiertheit stärken
In Essen, Köln und anderen Städten schließen sich Menschen zusammen, um gegen Krankenhausschließungen zu kämpfen. Sie setzen sich ein für die stationäre Grundversorgung mit Notfallambulanz, Intensivstation und Geburtsklinik mit Kreißsaal. Die Zahl gewerkschaftlicher Streiks in Pflegeeinrichtungen und Kliniken hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. 2018 streikten die Beschäftigten der Uni-Kliniken in Nordrhein-Westfalen wochenlang für einen „Tarifvertrag Entlastung“. Die Beschäftigten von Charité und Vivantes in Berlin konnten 2021 mit einem 30-tägigen Vollstreik einen Tarifvertrag für Entlastung bei Charité und bei den Vivantes-Töchter eine Annäherung an den Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes (TvöD) gegen den Berliner Senat durchsetzen. Doch erst 10 bis 20 Prozent der Pflegebeschäftigten sind gewerkschaftlich organisiert. Gewerkschaftliche Streiks konzentrieren sich noch hauptsächlich auf Unikliniken und größere Kliniken, die zu einem Konzern gehören.
Die Industrialisierung wesentlicher Teile des Gesundheitssystems gleicht die Arbeitsbedingungen der in den Gesundheitskonzernen Beschäftigten untereinander und mit denen in der Industrie tendenziell an. So sorgt die Privatisierung durch die internationalen Monopole dafür, dass ihr Klassengegner, das internationale Industrieproletariat, erstarkt. Es ist die Kraft, unter deren Führung weltweit die Arbeiterklasse und die Massen den Imperialismus revolutionär überwinden können. Auch international stehen die Beschäftigten aus dem Gesundheitswesen teilweise mit an vorderster Front im Kampf gegen reaktionäre Regierungen, wie in Peru oder Chile.
Eine maßgebliche Rolle spielt dabei, dass die übergroße Mehrheit der Beschäftigten im Pflegebereich Frauen sind. In der Altenpflege sind es über 80 Prozent.8 Sie sind nicht nur doppelt betroffen: Einmal durch die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und dann durch die Abwälzung von immer mehr Plegeaufgaben auf die Familien, der Kinderversorgung während der Quarantäne, genauso wie der Pflege der Älteren. Vor allem verbindet sich bei ihnen das gewachsene gewerkschaftliche Bewusstsein mit einem zunehmenden Frauenbewusstsein über ihre doppelte Ausbeutung und Unterdrückung in der heutigen Gesellschaft.
Die eigene Klassenlage zu erkennen und danach zu handeln, darum gibt es eine entfaltete Auseinandersetzung unter den Pflegekräften: Soll man sich bis zur Erschöpfung aufreiben, sich so gut wie möglich arrangieren, gar kündigen – und damit vor diesen Zuständen kapitulieren und sie letztlich zementieren? Der andere Weg ist, die eigene Klassenlage zu erkennen und organisiert, mit Perspektive zu kämpfen.
Eine umfassende und vorausschauende Gesundheitsvorsorge wird erst möglich sein, wenn die Gesellschaft von der Diktatur der Monopole befreit ist. Erfahrungen aus den ehemaligen sozialistischen Staaten zeigen, wie mit der Abschaffung der kapitalistischen Ausbeutung eine Quelle vieler Krankheiten wegfällt. Medizinische Versorgung war kostenlos; Gesundheitsschutz, Prävention und Aufklärung wurden gesellschaftlich organisiert.
MLPD muss stärker werden
In den Kämpfen und Auseinandersetzungen im Gesundheitswesen erweisen sich die Wohngebietsgruppen der MLPD genauso wie die Betriebsgruppen der MLPD in den Kliniken oft als eine treibende Kraft. Sie helfen, Zusammenhänge zu erkennen, geben moralische Unterstützung und erarbeiten gemeinsam mit den Beschäftigten geeignete Forderungen, haben das Know-how zur Organisierung von Bewusstseinsbildung, Öffentlichkeitsarbeit und kämpferischen Aktivitäten. Die beiden Bücher von Stefan Engel, „Krise der bürgerlichen Ideologie und des Antikommunismus“ sowie „Krise der bürgerlichen Ideologie und des Opportunismus“, sind eine Hilfe, mit den Einflüssen des Pragmatismus und Opportunismus, der Beschränkung auf das „scheinbar Machbare“ fertigzuwerden und mit und in der MLPD den Kampf um eine befreite Gesellschaft, den Sozialismus, zu führen.