Rote Fahne 07/2020
Coronavirus: Ja zu Gesundheitsfürsorge – Nein zu heuchlerischen Notstandsmaßnahmen!
Das gab es noch nie! Die Coronavirus-Pandemie greift einschneidend in unser Leben ein, der ganze Alltag gerät aus den Fugen. Es sind nicht nur Menschenleben akut bedroht, sondern auch zahlreiche berufliche Existenzen. Unsicherheit und Zukunftsängste wachsen, aber auch Kampfgeist und Solidarität.
Das alles angesichts eines Krisenmanagements der Herrschenden, mit dem sie vor allem die Funktionsfähigkeit ihrer Staaten und ihrer Wirtschaft retten wollen. Beschäftigte im Gesundheitswesen, in den Supermärkten — sie hingegen arbeiten oft selbstlos bis an die Leistungsgrenze. Inzwischen werden Notstandsmaßnahmen eingeführt, die einen bisher nicht gekannten Abbau bürgerlich-demokratischer Rechte und Freiheiten bedeuten. Die Corona-Pandemie wird zum Rechtfertigungsszenario, die Lasten der Weltwirtschafts- und Finanzkrise auf die Massen abzuwälzen.
Auch die sich ständig vertiefende latente politische Krise und die Vertrauenskrise, die das ganze politische System erfasst haben, versuchen die Herrschenden damit in den Griff zu bekommen. Dabei präsentieren sich Bundeskanzlerin Angela Merkel und alle, die ihre Nachfolge beim Parteivorsitz oder im Kanzleramt im Auge haben – wie Markus Söder, Armin Laschet und Jens Spahn – als kompetente Krisenmanager. Damit konnte die CDU in Umfragen zeitweise wieder Punkte dazugewinnen. Es ist allerdings nicht zu erwarten, dass dies die tiefe Vertrauenskrise beenden wird. Im Gegenteil: Die Maßnahmen zur Abwälzung der Krisenlasten in den Betrieben oder zum Abbau bürgerlich-demokratischer Rechte und Freiheiten stoßen auf immer breitere Kritik. Um diese Kritik zu stärken, ist es wichtig, die relativ gleichgeschaltete Meinungsmanipulation durch die bürgerlichen Medien zu durchbrechen.
Rote Fahne 07/2020
Corona: Ja zu Gesundheitsfürsorge – Nein zu heuchlerischen Notstandsmaßnahmen!
48 Seiten
ab 2 €
Die jetzt ergriffenen Notstandsmaßnahmen bringen eine Verschärfung der Rechtsentwicklung der Regierung zum Ausdruck. Stefan Engel schrieb in dem Buch „Morgenröte der internationalen sozialistischen Revolution“ 2011: „Mit den Notstandsgesetzen schufen sich die deutschen Monopole Instrumente für einen ‚legalen‘ Wechsel ihrer Herrschaftsmethoden von der Hauptseite Demokratie zur Hauptseite Diktatur. Bisher treiben sie jedoch die Faschisierung des Staatsapparats vor allem unterhalb der Schwelle des offiziellen ‚Notstands‘ voran.“ (Seite 279/280)
Noch trauten sich die Bundesregierung und die Landesregierung nicht, bundesweite Ausgangssperren zu verhängen. Am 22. März beschlossen sie ein umfangreiches „Kontaktverbot“. Dies und die bis dahin schon getroffenen Maßnahmen kennzeichnen de facto Notstandsmaßnahmen. Damit werden diejenigen Kräfte gestärkt, die innerhalb der Herrschenden schon seit einigen Jahren darauf drängen, von der hauptsächlichen Regierungsmethode des Systems der kleinbürgerlichen Denkweise überzugehen zu offener Reaktion nach innen und außen.
Unter dem irreführenden Begriff Corona-Krise, der alle kapitalistischen Krisen auf die Pandemie abschiebt, werden jetzt verschiedenste Maßnahmen durchgesetzt, um die Krisenlasten auf die Massen abzuwälzen, die Rechtsentwicklung voranzutreiben, die demokratischen Rechte und Freiheiten weiter abzubauen und so weiter. Selbst der provokative Abschluss in der Metalltarifrunde, der von Kapitalisten und der rechten Gewerkschaftsführung schon Ende 2019 ausgetüftelt wurde – als noch kein Mensch von der Pandemie sprach –, wird nun unter dem Titel eines Corona-Notfallabschlusses verkauft.
Industriearbeiter setzten sich an die Spitze
In atemberaubender Schnelligkeit hat sich diese Situation entwickelt. Beginnend mit der zweiten Märzwoche, schossen auch in Deutschland die Erkrankungen und Todesfälle wegen des neuen Virus Sars-CoV-2 exponentiell nach oben. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) stufte die Coronavirus-Epidemie als Pandemie (weltweite Epidemie) ein, deren Schwerpunkt sich nun von China, wo sie Ende Dezember begonnen hatte, nach Europa verlagerte. Genauso wie die chinesische Regierung verloren auch die Regierungen Europas wertvolle Zeit. Viel zu lange zögerten sie umfassende Schutzmaßnahmen hinaus, vor allem aus Rücksicht auf die kapitalistischen Profitinteressen.
Es waren die Industriearbeiter der großen Autokonzerne in Italien, Spanien und Deutschland, die sich mit ihrem Protest und ersten Streikaktionen an die Spitze einer Bewegung stellten: zum wirklichen Shutdown – mit Stilllegung der Produktion bei vollem Lohnausgleich. Sie wollten nicht mehr hinnehmen, dass ihre Kinder nach Hause geschickt wurden, sie selbst aber oft ohne Schutzmaßnahmen weiterarbeiten sollten, während die Führungsetage sich in Videokonferenzen rettete. Mit dem Ruf „Schließung jetzt!“ stoppten die Arbeiterinnen und Arbeiter des Daimler-Werks in Vitoria-Gasteiz, der größten Fabrik des Baskenlandes, am 16. März das Fließband und setzten die vorübergehende Schließung aus gesundheitlichen Gründen durch.
Mit ihrem Sofortprogramm zur Corona-Pandemie, das vor vielen Betrieben und in unzähligen Wohngebieten verteilt wurde, orientierte die MLPD unter anderem auf den Kampf für die „Sofortige Stilllegung der Industrieproduktion, Logistik und Verwaltung, sofern es nicht gesellschaftlich notwendige Versorgungsgüter oder Notmaßnahmen betrifft“. Auch in Deutschland waren es empörte Proteste der Belegschaften, die die Konzerne zum Produktionsstopp zwangen. Geradezu unverschämt aber waren die Bedingungen, unter denen dies geschah: In einigen großen Konzernen wurde Zwangsurlaub verordnet, in anderen Betrieben sollte nur ein Bruchteil des Lohns ausbezahlt, der Rest mit Überstundenausgleich oder Minusstunden abgegolten werden.
Nicht vorherzusehende Katastrophe?
So vollständig überrascht können die bürgerlichen Spitzenpolitiker von der Corona-Pandemie nicht gewesen sein. Bereits 2012 wurde dem Bundestag eine Risikoanalyse des Robert-Koch-Instituts und weiterer Bundesbehörden vorgelegt, die unter anderem folgendes Szenario beschrieb: „… eine von Asien ausgehende, weltweite Verbreitung eines hypothetischen neuen Virus … Zum Höhepunkt der ersten Erkrankungswelle … sind circa sechs Millionen Menschen in Deutschland … erkrankt. Das Gesundheitssystem wird vor immense Herausforderungen gestellt, die nicht bewältigt werden können.“ In der Risikoanalyse werden Ablauf und Folgen eines „außergewöhnlichen Seuchengeschehens, das auf der Verbreitung eines neuartigen Erregers basiert“, detailliert durchgespielt.1 Das zeigt: Die bürgerlichen Politiker steuerten sehenden Auges auch auf die jetzige Katastrophe zu. Nicht die jetzt vielbeschworene Einstellung des Gesundheitswesens auf solche Katastrophen wurde seitdem vorangetrieben, sondern seine Ausrichtung auf nackten Maximalprofit.
Die notwendigen umfassenden Vorkehrungen und Gegenmaßnahmen zur Eindämmung und Verhinderung solcher Pandemien scheitern im Kapitalismus auch an der gesetzmäßigen Anarchie der Produktion und – könnte man ergänzen – der Wissenschaft. Denn die kapitalistische Konkurrenz verhindert auch hier eine umfassende Zusammenarbeit.
Kollapsgefahr für das Gesundheitswesen
„Deutschland ist bestens auf eine Pandemie vorbereitet“ – diese vollmundige Botschaft der Bundesregierung erweist sich als Lug und Trug. Erst nach Wochen wurden wenigstens die Krankenhäuser und die Notfallpraxen verspätet und mangelhaft mit Schutzmasken und Schutzkitteln ausgestattet – die Arztpraxen weit und breit aber noch nicht!
Die Destruktivkräfte des Imperialismus werden gerade am Beispiel Gesundheitswesen erkennbar: 1,6 Billionen Euro wurden 2018 weltweit für Rüstung und Militärforschung ausgegeben, die Forschung an Medikamenten und Impfstoffen für Sars und Mers dagegen wegen mangelnder Profitaussichten auf Eis gelegt.1 Der Pflegenotstand führt gerade beim hoch belasteten Intensivpflegepersonal dazu, dass ein Drittel der dort Beschäftigten aus dieser Arbeit herauswill. Viele Frauen schaffen es nur in Teilzeit, und der Krankenstand ist hoch. Ulla Heddemann, Intensivkrankenschwester der Berliner Charité, kritisiert in ihrer Weact-Petition: „Jetzt rächt sich die Privatisierungswelle und Profitorientierung der letzten 20 Jahre. … In der Krise wird besonders deutlich: Der Mensch muss im Mittelpunkt stehen, nicht die Profite – gerade im Gesundheitssystem.“
Tiefer Absturz innerhalb der Weltwirtschaftskrise
Bereits seit Mitte 2018 hat sich eine neue Weltwirtschafts- und Finanzkrise herausgebildet. In China haben sich die Zuwächse der Industrieproduktion seitdem bereits drastisch verringert. Im Januar und Februar 2020 ging sie um 13,5 Prozent zurück, und die Anlageinvestitionen fielen um fast 25 Prozent. Dieser Rückgang der Industrieproduktion war der stärkste, der in China je verzeichnet wurde.2 In Deutschland schrumpft die Industrieproduktion bereits seit Mitte 2018 – mit zunehmender Tendenz. Der durchschnittliche Rückgang in den 12 Monaten des letzten Jahres lag bei 3,5 Prozent.
Die jetzige Weltwirtschafts- und Finanzkrise dürfte die bisher tiefste von 2008 bis 2014 übertreffen. Schon länger war klar, dass die gigantische Überakkumulation von Kapital durch die Vernichtung riesiger Kapitalmengen abgebaut werden muss. Das wird jetzt unter dem Titel „Corona-Krise“ betrieben und rücksichtslos auf die Arbeiterklasse und die breiten Massen abgewälzt. Eine massive Pleitenwelle, vor allem kleiner Betriebe und Selbständiger, aber auch großer Konzerne und Banken, ist zu erwarten. Der zwischenimperialistische Konkurrenzkampf verschärft sich massiv und erhöht die Kriegsgefahr.
An den Börsen der Welt führte die panische Angst der Wertpapierhändler vor einer solchen Entwicklung bereits Anfang März zu den zwei größten Kursabstürzen seit 2008. Gleichzeitig spekulieren Hedgefonds munter mit Wetten auf Kursabstürze und verdienen dabei – wegen der Krise – Milliarden. Ein offener Ausbruch der Weltfinanzkrise, die in Wechselwirkung mit der gegenwärtigen Überproduktionskrise verläuft, kann diese abrupt vertiefen.
Um das zu verhindern, legen alle imperialistischen Staaten und die Europäische Zentralbank (EZB) nach und nach gigantische neue Krisenprogramme auf. Die Bundesregierung verspricht Kredite, Zuschüsse, Steuererleichterungen und Kurzarbeitergeldzahlungen in vermeintlich „unbegrenzter“ Höhe. Bereits jetzt ist dafür eine Neuverschuldung in Höhe von 150 Milliarden Euro veranschlagt. Hektisch organisiert die EU ein weiteres Subventionsprogramm von über 1,2 Billionen Euro. Der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung warnte daraufhin vor einer neuen Staatsschuldenkrise in der Eurozone.3 Das kann zum Staatsbankrott ganzer Länder führen. So oder so sollen die Arbeiter in den Betrieben und die breiten Massen im Kapitalismus früher oder später für die gigantischen Summen aufkommen. Notwendig ist der Kampf um die Freistellung der Beschäftigten bei vollem Lohnausgleich und für den entschiedenen Ausbau des Gesundheitswesens auf Kosten der Profite!
Umweltkrise entschärft?
Das Institut Agora Energiewende geht davon aus, dass die Corona-Krise den CO2-Ausstoß in Deutschland um 30 bis 100 Millionen Tonnen verringern wird. Die Drosselung der Industrieproduktion und des Autoverkehrs wird auch den Ausstoß anderer Schadstoffe wie Feinstaub und Stickoxide zurückgehen lassen. Das belegt nur, was möglich wäre, wenn dauerhaft die Kohleverbrennung eingestellt und der Individualverkehr auf umweltfreundliche öffentliche Verkehrssysteme umgestellt würde. Der Kampf gegen die Pandemie muss deshalb verbunden werden mit dem Kampf für entsprechende Sofortmaßnahmen, wie sie die MLPD fordert – statt danach den CO2-Ausstoß womöglich noch mehr zu erhöhen. Auch hier wird überdeutlich, dass der gesellschaftsverändernde Kampf aufgenommen werden muss: Die Umweltkrise kann heute nicht mehr im Rahmen des kapitalistischen Systems überwunden werden!
Drastische Auswirkungen für die Familien
Durch die Abwälzung der Folgen der notwendigen drastischen Maßnahmen auf die Einzelfamilien vertieft sich die Krise der bürgerlichen Familienordnung im Kapitalismus. Die Masse der Frauen mit Kindern, die keine Notgruppe in Kita oder Schule in Anspruch nehmen können, soll unentgeltlich zu Hause bleiben oder Homeoffice machen. Das kollidiert wiederum mit der Betreuung der Kinder und Jugendlichen, die jetzt durch die beginnenden Ausgangssperren zuhause eingepfercht sind. All das vervielfacht Reibungspunkte, verschärft familiäre Konflikte. In China führte die totale Quarantäne für Millionen zu einer massenhaften Zunahme von Gewalt gegen Frauen. Welche Perspektive hat dieses System eigentlich noch, wenn es sich gegenüber einer solchen gesellschaftlichen Herausforderung als völlig unfähig erweist?
Man kann sich vorstellen, was möglich wäre ohne die Konkurrenz der Pharmamonopole und das imperialistische Hauen und Stechen: In einer global koordinierten Kraftanstrengung, unter Anwendung der modernsten Kommunikations- und Forschungsmittel, ließen sich zügig Impfstoff und Medikamente entwickeln, und durch Massentestung ließe sich die Ausbreitung von Pandemien eindämmen.
Sozialismus statt kapitalistischer „Planwirtschaft“
Bei jeder Gelegenheit verteufelt die antikommunistische Propaganda die sozialistische Planwirtschaft als „bürokratische Misswirtschaft“, während der „kapitalistische Markt“ die Bedürfnisse der Menschen viel besser befriedigen könne. Doch angesichts der weltweiten „Gesundheitskrise“ sind staatliche Eingriffe, Programme und Anordnungen – noch mehr als sonst – hoch im Kurs. Diese kapitalistisch-zentralistische „Planwirtschaft“, die unter dem Diktat der 500 größten internationalen Übermonopole steht, wird über die Köpfe der breiten Massen hinweg und auf Kosten ihrer sozialen, politischen und kulturellen Interessen durchgesetzt. Sie ist rein vom Profitinteresse bestimmt und zerstört die Lebensgrundlagen der Massen.
Die Situation schreit förmlich nach einer sozialistischen Planwirtschaft, die die kollektive Weisheit einer international verbundenen Arbeiterklasse und Wissenschaft umfassend zur Geltung bringt. Sie wäre in der Lage, mit einer solchen gesellschaftlichen Herausforderung im Interesse der breiten Massen richtig umzugehen. Weltweit würde die Initiative der Massen entwickelt zur Eindämmung und Erforschung der Pandemie, zur Entwicklung der notwendigen Gegenmaßnahmen und zur Beseitigung der Ursachen.
Was ist zu tun?
Tatsächlich ändern sich derzeit nicht nur die Bedingungen des täglichen Zusammenlebens einschneidend, sondern auch die für die Organisierung von Kämpfen und die organisierte Zusammenarbeit. Das Demonstrations- und Versammlungsrecht ist schon jetzt massiv eingeschränkt. Im vorauseilenden Gehorsam wurden Betriebsversammlungen, Tarifkämpfe und sogar 1. Mai-Aktivitäten abgesagt. Ein Offenbarungseid und eine neue Stufe der negativ ausgerichteten Klassenzusammenarbeitspolitik.
Und das ist nur ein Vorgeschmack dessen, was uns in Zeiten vertiefter Krisen und verschärfter Klassenkämpfe erwarten wird. Der Notstand, den die Herrschenden ausrufen, zeigt die ganze Überlebtheit des kapitalistischen Weltsystems. Die Zeit ist reif, sich neu zu orientieren, und die Worte von Karl Marx zu beherzigen: „Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen … Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein.“4
Das wichtigste Gebot der Stunde ist deshalb, sich auf härtere Zeiten und Kämpfe einzustellen, sich dafür auszubilden und – vor allem – sich dafür besser zu organisieren. Das solidarische und schöpferische Potenzial der Massen, das sich in diesen Tagen entfaltet, wird dann erst richtig zum Tragen kommen.