ROTE FAHNE 09/2019

ROTE FAHNE 09/2019

Diktatur des Proletariats - Schreckgespenst oder Befreiung?

Hilfe! Die Kommunisten wollen eine Diktatur des Proletariats errichten! In antikommunistischen Dokumentationen aller Art wird dieser Begriff mit Bildern des Schreckens und Terrors unterlegt, Angstgefühle sollen entstehen. Doch worum geht’s dabei eigentlich?

Von Lisa Gärtner
Diktatur des Proletariats - Schreckgespenst oder Befreiung?
Versammlung im Betrieb, 1933, in der sozialistischen Sowjetunion – die Arbeiter haben die Macht und organisieren breiteste Demokratie. Foto: historisch, gemeinfrei

Mit dem Versprechen einer „sozialen Marktwirtschaft“ sollte angeblich „das Soziale“ mit dem „Markt“, die Interessen der Proletarier mit denen der Kapitalisten versöhnt werden. Doch dieses Wortgebilde kann die Unversöhnlichkeit dieser Gegensätze immer schlechter übertünchen. Die SPD, eine Verfechterin dieser Idee, ist schon lange zu einer Monopolpartei mutiert. Auch die Linkspartei legt sich nicht mit den Monopolen an, um weiter von Regierungswürden im Kapitalismus träumen zu dürfen. Niemand kann heute ernsthaft abstreiten, dass eine Handvoll Monopole über Millionen Proletarier, also Arbeiter, bestimmen.

Diese Monopole diktieren der Gesellschaft ihren profitgierigen Willen, alles und jeder hat sich ihnen unterzuordnen. Was also tun? Wenn sich die Monopole schon nicht abwählen lassen, dann ist eine Revolution der richtige und notwendige Schritt. Eine proletarische Revolution wälzt die gesellschaftlichen Verhältnisse um, stürzt die Diktatur der Monopole. Doch bekanntlich lässt sich keine alte Macht kampflos die Macht nehmen. So tobt auch nach der Revolution der Klassenkampf weiter. Marx und Lenin forderten deshalb, dass es eine Phase der Diktatur des Proletariats braucht – als Übergang bis zu einer wirklich klassenlosen Gesellschaft. Denn, so Lenin: „Wir sind keine Utopisten. Wir ‚träumen‘ nicht davon, wie man unvermittelt ohne jede Verwaltung, ohne jede Unterordnung auskommen könnte; diese anarchistischen Träumereien … dienen in Wirklichkeit nur dazu, die sozialistische Revolution … zu verschieben …“1

Um die Interessen der Arbeiter und der Bevölkerung zu sichern, werden „eine Reihe von Freiheitsbeschränkungen für die Unterdrücker, die Ausbeuter, die Kapitalisten“2 festgesetzt . Doch ist endlich die Profitmacherei nicht mehr die oberste Maxime der Gesellschaft, ergeben sich für alle Nicht-Kapitalisten ungeahnte Möglichkeiten. „… zum erstenmal ein Demokratismus für die Armen, für das Volk … und nicht ein Demokratismus für die Reichen … “.3

Der nichtkommunistische Schriftsteller Paul Diestelbarth besuchte in den Fünfzigerjahren die sozialistische Sowjetunion. Über ihre Anfänge ab 1917 berichtete er: „Unter dem Zarentum gab es in Rußland nur eine Indus­trie von sehr bescheidenem Umfang; sie wurde natürlich enteignet, genau wie der Grund und Boden: was dem einen recht, ist dem andern billig. Die Besitzer flüchteten ins Ausland und nahmen ihr Geld mit, wenn sie es retten konnten. … Es blieb also gar keine andere Möglichkeit, als langsam aus den eigenen Reihen Ingenieure heranzubilden und aus eigenen Mitteln ... Industrien aufzubauen. Mit was für Schwierigkeiten das verknüpft war, was sich daraus für Zwischenfälle ergaben, wieviel gänzlich ungeeignete, oft im Innern feindliche Leute sich dabei eindrängten – all das kann man sich leicht vorstellen. Es waren auch für das russische Volk ungeheure Opfer und Entbehrungen damit verknüpft.“4 Anfang der Fünfzigerjahre besuchte er eine Traktorenfabrik „Dsershinskij“ in Stalingrad und berichtete: „Dabei fiel auf, daß fast alle leitenden Personen aus dem Arbeiterstand des Werkes selbst hervorgegangen waren … Alle diese Männer waren mit ihren Werken im strengsten Wortsinn verwachsen. … Die Arbeiterschaft machte einen guten Eindruck, schien durchaus zufrieden und war gutgelaunt. … (Ich) müßte … lügen, wenn ich irgendwo das Geringste von einem Antreibersystem bemerkt hätte. Die bei uns weitverbreitete Anschauung, als ob stumme Arbeitermassen unter der Peitsche von Sklavenvögten das Letzte hergeben müßten, entspricht keiner wie immer gearteten Wirklichkeit. … Jeder Arbeiter hat Anrecht auf eine freie Werkswohnung, für die er nur die sogenannten kommunalen Dienste zu bezahlen braucht, und zwar einen Rubel je qm Wohnraum … Alle ärztliche Hilfe ist vollkommen frei, auch für die Familienmitglieder. ... Zum Werk gehören … auch eigene Sanatorien und Erholungsheime sowie Kinderheilstätten im Gebirge und am Meer. … Alle kulturellen Einrichtungen stehen dem Arbeiter kostenlos zur Verfügung. Es gibt einen großen ‚Kulturpalast‘ mit Theater- und Konzertsälen, Bibliothek, Leseräumen und Restaurant. … Das Werk gibt Fachzeitschriften für alle Abteilungen heraus, also für Gießer, Schmiede, Schweißer, Fräser usw. … Zum Werk gehört ein wissenschaftliches Institut im Universitätsrang mit 250 Lernenden, eine Technische Mittelschule mit 450 Lernenden; technische Abendkurse werden von 3500 Arbeitern besucht. … Es gibt Werksküchen … mit reichhaltigem Speisezettel.“5

Es lohnt sich, diese Erfahrungen auf das Heute anzuwenden: Was würde die Diktatur des Proletariats in den Ford-Werken Köln, bei Amazon, in den Krankenhäusern, in der Energiewirtschaft verändern? Wer und was müsste unterdrückt werden, was könnte wie befreit werden und anders, grundsätzlich anders gestaltet werden? Der 1. Mai sollte Anlass sein, die Zukunft anders zu denken, als es dem Chef genehm ist.