Neue Biografie birgt Überraschungen

Neue Biografie birgt Überraschungen

„Mao war nicht der ‚Lord of Misrule‘ ...“

„Mao war nicht der ‚Lord of Misrule‘ ...“
Mao am gelben Fluß: Kollektivierung der Landwirtschaft und Regulierung der Wasserströme – wichtige Projekte im sozialistischen Aufbau unter Mao Zedongs Leitung, Foto: gemeinfrei

Der Berliner Verlag Matthes & Seitz ist nicht gerade für linke und fortschrittliche Literatur bekannt. Seine aktuelle Neuerscheinung, eine Mao-Biografie des Direktors des China- Centrums Tübingen, Helwig Schmidt- Glintzer, ließ daher nichts Gutes erwarten. Umso überraschender, dass der 1948 geborene Autor, der in der Vergangenheit unter anderem den Lehrstuhl für Ostasiatische Kultur- und Sprachwissenschaft in München innehatte, entgegen dem antikommunistischen Mainstream schreibt: „Mao war nicht der ‚Lord of Misrule‘1, als den ihn manche sehen wollen. Er suchte nicht das Chaos ‚ohne jeden Bezug zur Ordnung‘, sondern ihm war einfach nur klar, dass eine Überwindung der größten Ungerechtigkeiten einer längeren Anstrengung und vieler Kämpfe bedarf.“ 2 Im Bemühen, der historischen Gestalt Maos gerecht zu werden, heißt es weiter: „… stellte ich mir die Frage, ob dieser Mann mit dem Begriff des Diktators angemessen charakterisiert wird. Bei Würdigung der Kontexte und Zusammenhänge wird man dieses Etikett als weitgehend unbrauchbar beiseite legen und sein Augenmerk auf das gemeinschaftliche Handeln und die bewusste Beteiligung vieler Einzelner sowie auf Fortschritte und Verluste und auf millionenfaches Leid richten.“ 3

Mit diesem Leid sind vor allem die Kollektivierung der Landwirtschaft im „Großen Sprung nach vorn“ von 1959 und die 1966 begonnene Große Proletarische Kulturrevolution gemeint. Obwohl Schmidt-Glintzer sich der antikommunistischen Bewertung der damit verbundenen Ereignisse nicht explizit entgegenstellt, versucht er doch, ihren positiven Sinn und Nutzen für das chinesische Volk zu erfassen. Dabei ist ihm auch durchaus bewusst, dass die heutige Verurteilung dieser von Mao initiierten Politik durch die neue chinesische Führung umstritten ist: „In China selbst gibt es nicht wenige, die überzeugt sind, das heutige Chinas entferne sich von den Vorstellungen seiner Gründergestalt.“ 4

Der Leser lernt durch die Biografie nicht nur den Lebensweg Maos kennen, sondern begreift die Problematik des antiimperialistischen Befreiungskampfs Chinas und versteht, welch große Bedeutung die Oktoberrevolution in Russland 1917 dafür hatte. Er erfährt von den Auseinandersetzungen über die politische Linie der chinesischen Partei in der Kommunistischen Internationale und wie Maos Taktik der Schaffung von befreiten Gebieten und des Stützens auf die Bauernmassen als Hauptkraft sich durchsetzte. Er wird erstaunt sein über den Umfang der Hilfe der sozialistischen Sowjetunion für die chinesische Revolution und hören, dass Stalin bereits Mitte der 1930er-Jahre die Herausgabe von Schriften Maos in der Sowjetunion anregte.

Ein Ärgernis stellt dar, dass der Autor sich bei der persönlichen Beurteilung Maos auf das unsägliche Buch des in die USA übergesiedelten ehemaligen Arztes Maos stützt. Das ist eigentlich unter dem Niveau eines seriösen Wissenschaftlers! Ein Hindernis für viele ist sicher auch der Ladenpreis von 30 Euro.