Zwei Jahre Mindestlohn – eine kritische Bilanz

Am 1.1.2015 führte die Merkel-Gabriel-Regierung den gesetzlichen Mindestlohn ein. Zunächst betrug er 8,50 Euro, seit 1.1.2017 wurde er auf 8,84 Euro angehoben. Was hat sich dadurch für die Arbeiter und Angestellten verbessert?

Die Einführung eines Mindestlohns durch die Große Koalition war kein Almosen. Es war eine Reaktion auf die wachsende öffentliche Kritik an einer massiven Ausweitung des Niedriglohnsektors nach der Wiedervereinigung und vor allem in Folge der Hartzgesetze. Sie war die Folge einer drastischen Senkung der Tarifbindung und des Rückgangs der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen. 2012 waren im Westen nur noch 34 Prozent, im Osten 21 Prozent der Betriebe tarifgebunden. Von 1991 bis 2013 ging die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen um 41,5 Prozent zurück. Dazu kam der Abschluss von Tariföffnungsklauseln und die Einführung von Niedrigstlohngruppen durch die rechte Gewerkschaftsführung sowie die Hartz-Gesetze der Schröder/Fischer-Regierung. Sie zwangen arbeitslose Kolleginnen und Kollegen unter anderem, Löhne auf Arbeitslosenniveau zu akzeptieren. Von 2005 bis 2009 sanken die Reallöhne um 5,5 Prozent, dann bis 2013 stagnierten sie. Noch heute liegen die Reallöhne unter dem Stand von 1995. Der damalige SPD-Kanzler Gerhard Schröder rühmte sich auf dem Wirtschaftsgipfel in Davos 2005: „Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt.“

Mindestlohn ist Armutslohn

Um im Kapitalismus leben zu können, sind die Arbeiter gezwungen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Die Kapitalisten haben ein Interesse, diese so billig wie möglich zu bekommen. Sie gestehen den Arbeitern gerade so viel zu, wie sie zur Erhaltung ihrer Arbeitskraft brauchen. Und manchmal nicht mal das, wenn man an die sogenannten Lohn-Aufstocker denkt. Für ihren Lebensunterhalt muss über das Arbeitslosengeld II der Staat bzw. die Allgemeinheit aufkommen. Je mehr die Kapitalisten die Löhne drücken, um so größer ist der Mehrwert, den sie sich selbst aneignen können.

Ein Mindestlohn von 8,84 Euro ist ein Armutslohn. Er reicht kaum für das Nötigste zum Leben – schon gar nicht für eine angemessene Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben. Eine alleinstehende Person mit Mindestlohn liegt mit ihrem Nettoverdienst bei einer 37,7-Stunden-Woche noch unter dem Hartz-IV-Satz (ALG II). Besonders betroffen sind Alleinerziehende, vor allem Frauen. Neun von zehn Alleinerziehenden sind auf ergänzende staatliche Unterstützung angewiesen. Zwölf Prozent der Minijobber wird nach wie vor der gesetzliche Mindestlohn vorenthalten – bei anderen wird zwar nominell der Mindestlohn gezahlt, aber die Arbeitszeit unbezahlt verlängert.

Der Mindestlohn hat zwar zu einem Anstieg der Stundenlöhne vor allem der Minijobber geführt. Viele der 1,3 Millionen „Aufstocker“ haben aber real nicht mehr Geld in der Tasche. Denn mit der Einführung des Mindestlohnes werden ihre staatlichen Zuschüsse gegengerechnet. Niedriglöhne in Verbindung mit der Flexibilisierung der Arbeitszeit führen dazu, dass Familien unter den Belastungen auseinanderbrechen – viele Jugendliche schrecken davor zurück, eine Familie zu gründen.

Die Beseitigung von gröbsten Auswüchsen der Überausbeutung kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass mit dem Mindestlohn ein unter der Armutsschwelle liegender Lohn für circa 20 Prozent der Arbeiterinnen und Arbeiter festgeschrieben ist. Um im Alter eine eigenständige Rente auf Sozialhilfeniveau zu erreichen, muss man laut Bundesarbeitsministerium mindestens 11,50 Euro in der Stunde verdienen bei einer Vollzeitbeschäftigung und 45 Beitragsjahren.

So ist mit Einführung des Mindestlohns die Armut in Deutschland nicht weniger geworden – im Gegenteil: 2015 waren 15,7 Prozent der Bevölkerung von Armut betroffen. 2014 waren es noch 15,4 Prozent.

Missbrauch des Mindestlohns

Bis in die 1990er-Jahre waren die Tarifverträge gültige gesellschaftliche Norm für die Bezahlung der Beschäftigten. Nun missbrauchen die Unternehmen die Einführung des Mindestlohns, um das allgemeine Lohnniveau zu drücken. Sie wollen ihn zu einer Art Lohnleitlinie umfunktionieren und die Tariflöhne Schritt für Schritt als gesellschaftliche Norm ersetzen. Vor allem für Ungelernte ist bei Einstellung der Mindestlohn häufig nicht mal die Unter-, sondern Obergrenze. Diese Entwicklung stößt auf wachsende Kritik in der Arbeiterklasse und der Bevölkerung. 2015 beteiligten sich über 2,6 Millionen Menschen an gewerkschaftlichen Streiks. Es ist ein Ergebnis des erwachenden gewerkschaftlichen Bewusstseins auf breiter Front und wachsender Kampfbereitschaft, dass die Netto-Real­löhne seit 2014 wieder um durchschnittlich zwei Prozent gestiegen sind. Vor allem in den Zentren der Autoindustrie setzen sich zunehmend Teile der Stammbelegschaft für die Gleichbehandlung und Einstellung der Leiharbeiter ein, und es kommt dafür immer wieder zu selbständigen Aktivitäten.

Die MLPD unterstützt die Forderung nach einem deutlich höheren einheitlichen, branchenübergreifenden gesetzlichen Mindestlohn – in Verbindung mit dem Kampf gegen die negativen Auswirkungen der Hartz-Gesetze. Die MLPD lehnt allerdings entschieden die Ideologie des kleinbürgerlich-reformistischen Minimalismus ab. Die will die Arbeiterklasse nur noch mit „Mindest“forderungen abspeisen – Mindestlöhne, Mindestrente … So fordert die Linkspartei: „Prekär ist nicht genug“1 Was aber, wenn Lohn und Beschäftigung nicht mehr „prekär“ sind? Dann bleibt es trotzdem Ausbeutung der Lohnarbeit.

Die MLPD setzt sich für die Stärkung der Gewerkschaften als Kampforganisationen ein, gegen die Politik des Co-Managements: mit Tariföffnungsklauseln, faulen Zugeständnissen und Verzicht auf den Einsatz der gewerkschaftlichen Kampfkraft. Für höhere Löhne und Gehälter – weg mit Niedriglohngruppen und sogenannten Einstiegslöhnen – für die Allgemeinverbindlichkeit aller Tarifverträge!

"Nieder mit dem Lohnsystem"

Aber unprekär ist der MLPD nicht genug. Sie stellt das kapitalistische Lohn- und Ausbeutungssystem als Ganzes infrage. Damit die geschaffenen Werte denen zugute kommen, die sie erarbeiten, muss der Kapitalismus revolutionär überwunden und der Sozialismus errichtet werden, der dieser kapitalistischen Ausbeutung und Unterdrückung ein Ende setzt. Bereits Karl Marx hat der Arbeiterklasse geraten, nicht zu vergessen „… dass sie gegen Wirkungen kämpft, nicht aber gegen die Ursachen dieser Wirkungen … Sie sollte daher nicht ausschließlich in diesem unvermeidlichen Kleinkrieg aufgehen, der aus den nie enden wollenden Gewalttaten des Kapitals oder aus den Marktschwankungen unaufhörlich hervorgeht … Statt des konservativen Mottos: ,Ein gerechter Tagelohn für eine gerechtes Tagewerk!‘ sollte sie auf ihr Banner die revolutionäre Losung schreiben: ,Nieder mit dem Lohnsystem!‘“2

 

1 Veranstaltungsreihe mit Katja Kipping

2 Karl Marx, Marx/Engels, Werke, Bd. 16, S. 151f.