Psychische Erkrankungen nehmen zu – was tun?

Die „Rote Fahne“ im Gespräch mit Frau Dr. med. Ute Scholten; unter anderem über Probleme des Gesundheitswesens, den Bedarf an Psychotherapien zu decken

Rote Fahne: Welche Gründe gibt es für die Zunahme psychischer und psychosomatischer Erkrankungen, besonders bei Frauen und Jugendlichen?

Dr. med. Ute Scholten: Bei Frauen hängt die Zunahme psychischer und psychosomatischer Erkrankungen aus meiner Sicht viel mit deren Vielfachbelastung durch Beruf, Haushalt und Kindererziehung zusammen. Frauen sind heutzutage meist berufstätig. Bisweilen sind sie in Familien die Hauptverdiener und kümmern sich aus eigenem Wunsch, aber auch aufgrund ihrer oft ausgeprägteren Kommunikationsfähigkeiten, um die Kinder und das „Gesamtmanagement“ der Familie. Dabei erkranken Frauen sowohl in der akuten Belastungsphase an Depressionen, Panik- oder Somatisierungsstörungen als auch häufig nachdem die Kinder auf eigenen Füßen stehen.

Frauen im Berufsleben erfahren nach wie vor viel Diskriminierung, müssen mehr leisten als ihre männlichen Kollegen. Eine ausschließliche Hausfrauentätigkeit wird heutzutage nach wie vor gesellschaftlich aber auch von den Frauen selber entwertet, selbst wenn zum Beispiel drei Kinder mit im Haushalt leben. Die Anforderung an soziale Kompetenz, Umsicht, Übersicht und eigene Ausgeglichenheit von Menschen, die viel mit Kindern zusammen sind und sie erziehen sollen, wird aus meiner Sicht ohnehin sehr wenig wahrgenommen und wertgeschätzt. Dies führt einerseits zur Frustration und letztlich zu psychischer Erkrankung der Erwachsenen. Aber auch der Kinder und Jugendlichen, die nicht nur aus meiner Sicht viele psychischen und sozialen Fertigkeiten heute nicht mehr im Elternhaus erlernen.

Kann der Bedarf an qualifizierter Psychotherapie überhaupt vom Gesundheitswesen gedeckt werden?

Zurzeit auf jeden Fall nicht. Zumal auch häufig unkonventionelle Kombinationen von Behandlungselementen sinnvoll wären, die aber von den Krankenkassen nicht bezahlt werden: zum Beispiel eine Kombination aus Kunsttherapie oder Körpertherapie und Gesprächstherapie oder Hypnose, oder Entspannungsverfahren und Analyse. Seit Neuestem ist es wenigstens möglich, Einzel- und Gruppen­therapie zu kombinieren.

Ich glaube, dass die Ausbildung von Psychotherapeuten noch praxisorientierter sein müsste. Die Patienten verändern sich auch und die belasteten Jugend­lichen brauchen eine andere Behandlung als noch vor 20 Jahren. Natürlich gibt es auch insgesamt zu wenig Psychotherapeuten mit Kassenzulassung. Zurzeit versuchen die Kassen, Kollegen ohne Zulassung mit „Spezialverträgen“ direkt mit den Kassen zu ködern. Hier zielt aber alles darauf ab, die Behandlungen möglichst kurz zu halten, indem zum Beispiel für die ersten zehn Sitzungen mehr gezahlt wird als für die nächsten zehn Sitzungen und sich die Behandlung finanziell für den Therapeuten ab der 20. Sitzung nicht mehr lohnt. Seelische Veränderung, Verabschiedung von alten Mustern braucht aber Zeit! Dafür werden in der Regel mindestens 25 Sitzungen über neun bis zwölf Monate gebraucht. Da bei komplizierten Zusammenhängen im Verlauf der Behandlung mehrfach neue Symptome und Erkenntnissprünge auftauchen, brauchen wir hier oft eine Zeit von bis zu zwei Jahren.

Was ist zu fordern?

Ich denke, es müsste mehr ambulante Möglichkeiten geben, Patienten, die noch keinen Kontakt mit Psychotherapie hatten, langsam heranzuführen. Auch mehr Beschäftigungsmöglichkeiten für seelisch angeschlagene Menschen, ohne dass sie Angst haben müssen, diskriminiert zu werden oder auf eine „schwarze Liste“ zu geraten.

Mehr Tagesstätten mit Möglichkeiten, sich sozial wieder zu integrieren. Außerdem mehr Unterstützung für Eltern, mehr Gruppenangebote für Jugendliche.

Herzlichen Dank für das Gespräch!