Willi Dickhut und der Aufbau einer demokratisch-antifaschistischen Volksfront in Solingen ab April 1945, Teil 1
Mai 1945 – der Krieg ist zu Ende. Deutschland und die Völker Europas sind vom Joch des Hitler-Faschismus befreit. Doch Deutschland ist am Boden zerstört. Die Städte in Schutt und Asche, die Wirtschaft zerschlagen, die Organisationen der Arbeiterbewegung vom Hitler-Faschismus weitgehend liquidiert und viele ihrer Besten hingemordet; es gibt keine demokratischen Institutionen und Freiheiten; Deutschland steht unter dem Befehl der Alliierten. Die Massen leben in großem Elend von Wohnungslosigkeit, Arbeitslosigkeit, Hunger und Seuchen. Die Massen sehnen sich nach einem grundlegenden Neuanfang. Nationalsozialismus, Militarismus und auch der Kapitalismus haben unter der Arbeiterschaft und weiten Teilen des ruinierten Kleinbürgertums abgewirtschaftet. Im Rahmen einer allgemeinen Linksentwicklung steht der Sozialismus hoch im Kurs. Doch steht damit auch der Kampf um den Sozialismus auf der Tagesordnung der Strategie und Taktik der Kommunisten?
Im Jahr 1981 schrieb Willi Dickhut, der Solinger Kommunist, antifaschistische Widerstandskämpfer und spätere Vordenker und Mitbegründer der MLPD, auf Seite 43 des Buchs „Strategie und Taktik im Klassenkampf“ (erschienen in der Reihe REVOLUTIONÄRER WEG, Bd. 20):
„Die Geschichte der Arbeiterbewegung zeigt, daß Situationen eintreten können, in denen das strategische Ziel, Sturz der kapitalistischen Herrschaft und Errichtung der sozialistischen Gesellschaftsordnung, nicht unmittelbar als nächstliegende Aufgabe gestellt werden kann, sondern als Übergang andere strategische Ziele in den Vordergrund gerückt werden müssen, ohne das grundlegende strategische Ziel, den Sozialismus, aus den Augen zu verlieren.“
Diese grundlegende Erkenntnis wendete Willi Dickhut schon unmittelbar nach dem Krieg auf die konkreten Bedingungen in Solingen an – ein Meisterwerk in der schöpferischen und mutigen Anwendung der dialektischen Methode. Auch der Stadtarchivar Solingens, Ralf Rogge, bezeichnet „die teilweise originellen Ansätze und Ideen, die in dieser Zeit entwickelt wurden“ als „wirklich herausragend“.1 Willi Dickhut war damals noch weitgehend auf sich allein gestellt, die KPD war noch nicht wieder legalisiert, es gab keine programmatischen Beschlüsse der KPD zur Strategie und Taktik. Er stützte sich dabei auf seine fast zwanzigjährigen Erfahrungen in der legalen und illegalen Parteiarbeit der KPD sowie insbesondere auch auf seine theoretischen Ausarbeitungen während der Illegalität. Schon im Juni 1944 hatte er darin wichtige Prinzipien über die Strategie und Taktik im Kampf gegen den Faschismus entwickelt (Hervorhebung durch Red. RF):
„Die Volksfront muss sich zusammensetzen aus dem antifaschistischen und antikapitalistischen Proletariat und den antifaschistischen, aber nicht antikapitalistischen Kreisen des Bürgertums, den Kleinbürgern, kleinen und mittleren Bauernmassen, den reformistischen und christlichen Kreisen. Weitgehendste Ausnutzung der antifaschistischen Elemente außerhalb des Proletariats ist geboten, dabei darf nie vergessen werden, daß sie nur bis zu einer gewissen Grenze den gemeinsamen Kampf mit dem revolutionären Proletarier führen. Ihre sozialen Prinzipien haben mit denen des revolutionären Proletariats nichts gemein.“2
Auch die Gefahren der Volksfrontpolitik für die revolutionäre Bewegung war ihm bewusst:
„Eine gefährliche Schwäche der Revolution ist der Opportunismus innerhalb des Proletariats … . Auch in dem kommenden Kampf … wird sich der Opportunismus in die Massen einschleichen, um ihnen den Willen zur proletarischen Revolution zu nehmen. Rücksichtslose Bekämpfung jeder opportunistischen Tendenz ist Vorbedingung eines erfolgreichen revolutionären Kampfes.“3
Und zur Denk- und Arbeitsweise eines Revolutionärs schrieb er:
„Ein Revolutionär muss eine konkrete Analyse der Lage geben (keine Politik mit Gefühlen machen), die Ereignisse logisch aneinanderreihen, Schlußfolgerungen ziehen und eine entsprechende Perspektive stellen. Danach müssen die konkreten Aufgaben gestellt und planmäßig und systematisch durchgeführt werden.“4
Ende April und Anfang Mai 1945 hielt er zwei Grundsatzreferate in damals noch illegalen Versammlungen in seiner Heimatstadt Solingen über die Ursachen des Faschismus und zur Strategie und Taktik des antifaschistisch-demokratischen Wiederaufbaus nach der Katastrophe des Hitler-Faschismus. Er entwickelte dort wesentliche Grundprinzipien, wie auf den Trümmern des Faschismus und des vorübergehend zerschlagenen deutschen Imperialismus durch die Zwischenetappe einer antifaschistisch-demokratischen Umgestaltung Deutschlands eine „wahre Volksrepublik“ ohne Nazismus und Militarismus errichtet werden kann. Für ihn als Revolutionär war klar: Sie darf niemals das Endziel, sondern nur der – notwendige – Übergang zu einer sozialistischen Gesellschaftsordnung sein.
Sechs Wochen später führte der „Aufruf des Zentralkomitees der KPD vom 11. Juni 1945 an das deutsche Volk zum Aufbau eines antifaschistisch-demokratischen Deutschlands“ den Strategiewechsel aus: „Wir sind der Auffassung, daß der Weg, Deutschland das Sowjetsystem aufzuzwingen, falsch wäre, denn dieser Weg entspricht nicht den gegenwärtigen Entwicklungsbedingungen in Deutschland …“5
Willi Dickhut war dabei bewusst, dass der vorrangige Kampf um einen antifaschistisch-demokratischen Neubeginn eine Gratwanderung ist:
Entweder als Methode zur Aktivierung und Revolutionierung der breiten Massen unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer revolutionären Partei, Führung der möglichen Bündnispolitik aller antifaschistischen Kräfte mit dem Ziel, auf dieser Grundlage den Klassenkampf höherzuentwickeln für eine sozialistische Umwälzung.
Oder aber, dass der demokratische Kampf in der Sackgasse des bürgerlichen Parlamentarismus und der Wiederherstellung der Macht des deutschen Imperialismus endet. Das war das Ziel der reaktionären Kräfte der SPD sowie der US-amerikanischen und britischen Besatzungsmächte in Westdeutschland.
Die Strategie und Taktik von Willi Dickhut war von Anfang an ein ideologisch-politischer Kampf gegen diese bürgerlich-reformistische Linie vor allem aus der SPD, den Opportunismus in den eigenen Reihen sowie vor allem gegen die reaktionäre Politik der Besatzungsmächte zur Restaurierung des Kapitalismus und Imperialismus in Deutschland – und damit zugleich ein Kampf um die Zeit.
Nach diesen Prinzipien entwickelte und führte er mit einer ungeheuren Energie, Prinzipienfestigkeit und taktischer Beweglichkeit in Solingen eine Politik des antifaschistisch-demokratischen Wiederaufbaus durch.
Seine Arbeit fußte auf drei Säulen:
1. Wiederaufbau der revolutionären KPD als Kern
2. Schaffung der Einheit der Arbeiterklasse in einer „proletarischen Einheitsfront“ – als Rückgrat
3. einer breiten antifaschistischen „Volksfront mit Einbezug der antifaschistischen Kreise des Bürgertums“6 mit selbständigen parteiübergreifenden Massenorganisationen.
(cg)
(wird fortgesetzt)
1 „Willi Dickhut – Anmerkungen zur Bedeutung für Solingens Stadtgeschichte“ vom 20. Mai 2015
2 „Proletarischer Widerstand gegen Faschismus und Krieg“, Bd. 2, S. 685
3 ebd., S. 686
4 ebd., S. 687
5 Aus „Dokumente der KPD 1945–1956“
6 „So war’s damals …“, S. 374