1939: Sowjetisch-finnischer Krieg

Der sowjetisch-finnische Krieg vom 30. November 1939 bis 13. März 1940 wird von antikommunistisch motivierten Geschichtsfälschern als Beispiel angeführt für die Behauptung, die Sowjetunion und Stalin hätten eine aggressive Politik betrieben. Es entstand die Legende vom kleinen tapferen Finnland, das sich gegen seinen übermächtigen Nachbarn heroisch zur Wehr setzte. Was geschah wirklich?

Finnland erlangte nach der russischen Oktoberrevolution 1917 seine Unabhängigkeit vom ehemals zaristischen Russland und wurde am 2.1.1918 von der Sowjetunion anerkannt. Die bürgerliche finnische Regierung schlug mit Hilfe deutscher Truppen die revolutionäre Bewegung im eigenen Lande brutal nieder und machte das Land zum Aufmarschgebiet westlicher Interventionstruppen, die die sozia­listische Revolution in Russland niederschlagen wollten. Die junge Sowjetunion, geschwächt durch die Vielzahl von Abwehrkämpfen gegen die Interventionen, musste am 14.10.1920 im Vertrag von Dorpat, Finnland erhebliche territoriale Zugeständnisse machen.

Die sowjetische Staatsgrenze und im besonderen Leningrad waren dadurch bedroht von der Seeseite (Finnischer Meerbusen) und von Landseite (Karelische Landenge). Diesen Zustand zu verändern bemühte sich die sowjetische Regierung in den 1930er Jahren. Sie schlug Finnland unter anderem einen Gebietstausch vor und wollte Inseln von Finnland pachten, um einen Marinestützpunkt am Eingang des Finnischen Meerbusens errichten zu können. Die finnische Regierung lehnte aber alle Vorschläge ab. Sie betrachtete die Sowjetunion als Gegner und errichtete mit Hilfe unter anderem der Deutschen an der karelischen Grenze starke Militär­anlagen (Mannerheimlinie) und Flugplätze „die den Bedarf der finnischen Luftflotte um das Zehnfache überstieg.“ (1)

Als die Hitler-Faschisten am 1. 9. 1939 Polen überfielen, bemühte sich die Sowjetunion verstärkt um die Verbesserung der Sicherheit ihrer Grenzen. Der Schutz Leningrads kam wieder auf die Tagesordnung. In drei Verhandlungen in Moskau beginnend am 12.10.1939 mit finnischen Vertretern, wurde aber kein Ergebnis erzielt. Stalin war bei allen drei Gesprächen dabei. Er erklärte beim ersten Treffen dem finnischen Sonderbeauftragten Paasikivi die sowjetischen Vorstellungen: „Wir müssen in der Lage sein, den Zugang zum Golf von Finnland zu blockieren. (…) Wir ersuchen Sie, die Entfernung von Leningrad bis zur Grenze auf 70 Kilometer zu verlängern. Das ist eine Minimalforderung und Sie dürfen nicht glauben, dass wir von dieser Forderung schrittweise abrücken werden. Wir können Leningrad nicht versetzen; also muss die Linie versetzt werden. … Wir verlangen 2.700 Quadratkilometer und bieten als Gegenleistung mehr als 5.500 an.“ (2) Die sowjetische Seite versuchte in den Gesprächen Kompromisse zu finden. Diese Kompromissbereitschaft aber wurde von finnischer Seite als Schwäche ausgelegt. Experten war der Wunsch der Sowjet­union, ihre Grenze zu sichern, absolut verständlich. Der britische Journalist Werth schrieb: „Für mich war es völlig klar, daß die Korrektur der Grenzen nördlich und nordwestlich von Leningrad für die Sowjetunion von lebenswichtiger Bedeutung war …“ (3)

Die finnische Delegation verließ Moskau das letzte Mal am 13. November 1939. Obwohl die Verhandlungen gescheitert waren, waren sie nach den Aussagen V. Tanners, führender Sozialdemokrat, finnischer Au­ßenminister und kompromissloser Hardliner in den Gesprächen, in einer freundschaftlichen Atmosphäre geführt worden. „Die Verabschiedung war beiderseits freundlich. Stalin sagte sogar: ,… viel Glück!‘ und Molotow: ,Bis wir uns wieder treffen‘“.(4)

Paasikivi bewertete einige Jahre später die Vorschläge der Sowjetunion zur Veränderung der Grenzlinie „als zurückhaltend und gemäßigt“.

Schon während der Verhandlungen hatte in Finnland die Mobilmachung begonnen. Teile der Bevölkerung wurden aus den grenznahen Gebieten evakuiert und an der Grenze zur Sowjetunion wurden 15 Infanteriedivisionen konzentriert.

Am 26.11.1939 eröffneten finnische Truppen dann das Feuer auf sowjetischen Grenzsoldaten. Es gab vier Tote und sechs Verletzte. Außenminister Molotow teilte der finnischen Regierung mit, dass „die Regierung der UdSSR (…) nicht die Absicht (hat), die Bedeutung dieser scheußlichen Tat über Gebühr herauszustellen.“ (5)

Die sowjetische Regierung schlug vor, „dass die finnische Regierung unverzüglich ihre Truppen auf der karelischen Landenge 20–25 km von der Grenze abrücken sollte, um so jede Möglichkeit der Wiederholung von provokatorischen Handlungen dieser Art auszuschließen“.(6)

In ihrer Antwort forderte die finnische Regierung die sowjetische Regierung auf, ihre Truppen ebenfalls 30 Kilometer zurückzuziehen. Das hätte bedeutet, bis in die Vororte von Leningrad. Die finnische Regierung war an keiner friedlichen Lösung des Problems interessiert. Weil die Grenzprovokationen anhielten, wurde am 28.11. von Seiten der Sowjetregierung der Nichtangriffspakt von 1932 gekündigt. Am 30.11. begannen die Kampfhandlungen.

In den Medien im Westen wurde jetzt die antikommunistische Hetze zur Hysterie gesteigert. Auch die sozialdemokratisch beeinflussten Parteien und Gewerkschaften Frankreichs und Englands beteiligten sich an den Verleumdungen der Sowjetunion. Es wurde zur Unterstützung Finnlands aufgerufen und Freiwillige geworben. Finnland erhielt Waffen, Kriegsmaterial und Kredite. Die britische und französische Regierung wollten trotz der Bedrohung durch Nazi-Deutschland sogar Soldaten schicken. Der Kriegsverlauf, die Ablehnung Norwegens und Schwedens Truppen durch ihr Territorium transportieren zu lassen, verhinderte die Umsetzung dieser Pläne. Nach anfänglichen Schwierigkeiten gelang es der Roten Armee, die Mannerheimlinie zu durchbrechen und der finnischen Armee eine Niederlage beizubringen.

Am 29. März 1940 erklärte Molotow dem Obersten Sowjet der UdSSR: „Die Sowjetunion vernichtete die Finnische Armee und obwohl sie ganz Finnland hätte besetzen können, tat sie dies nicht und forderte keinerlei Kriegsentschädigung, was jede andere Macht getan hätte, sondern beschränkte ihre Forderungen auf ein Minimum.“(7)

Auch nach dem II. Weltkrieg, in dem die finnische Regierung auf Seiten der faschistischen Wehrmacht erneut Krieg gegen die Sowjetunion führte, wurde Finnland nicht besetzt. „Die russischen Friedensbedingungen wurden in London und Washing­ton wegen ihres moderaten Charakters sehr begrüßt.“ (8)

Am 11. Oktober 1945 wurde bekannt gegeben, dass „als er von Finnlands ernster wirtschaftlicher Lage erfuhr, Marschall Stalin Finnland eine Verlängerung des Zeitraums für die Kriegsentschädigungen von sechs auf acht Jahre eingeräumt habe.“ (9)

Der irische Schriftsteller Geor­ge Bernard Shaw sagte der „Daily Mail“ in einem Interview:

Finnland ist von einer sehr dummen Regierung in die Irre geführt worden. Es hätte der sowjetischen Forderung nach einer territorialen Korrektur nachkommen sollen. Es hätte ein vernünftiger Nachbar sein sollen. Finnland hätte sich wahrscheinlich nicht dem russischen Angebot verweigert, wenn es auf sich alleine gestellt gewesen wäre. … Keine Macht könnte eine Grenze tolerieren, von der aus eine Stadt wie Leningrad bombardiert werden kann, wenn sie weiß, dass die Macht auf der anderen Seite der Grenze … in der Hand einer dummen Regierung liegt, die im Interesse von anderen und größeren Mächten handelt und ihre Sicherheit bedroht.“ (10)

Ziel der sowjetischen Regierung war es immer, mit der finnischen Regierung eine friedliche Lösung in gegenseitigem Einvernehmen zu erreichen. Die profaschistischen und imperialistischen Kreise im Wes­ten bestärkten Finnland aber in seiner ablehnenden Haltung. Sie wollten nicht den Aggressor Hitler, sondern die Sowjetunion isolieren und schwächen. Die Regierungen Englands und Frankreichs hatten Nazideutschland nach dem Einmarsch in Polen zwar den Krieg erklärt, aber unternahmen keine militärischen Aktionen. Ihr Wunsch war es, dass Hitler nun die Sowjetunion angreifen würde und sie warteten deshalb ab.

Der Völkerbund wurde in diesem Sinne instrumentalisiert. Obwohl nur die Hälfte der Mitglieder des Völkerbundrates dafür stimmte, wurde die Sowjetunion aus dem Völkerbund ausgeschlossen. Stalin hat bei der Konferenz in Jalta im Februar 1945, als es um den Modus der Beschlussfassung in der neuen Weltorganisation ging, an diese Ereignisse erinnert. „Meine Moskauer Kollegen können nicht vergessen, was sich während des russisch-finnischen Krieges im Dezember 1939 abgespielt hat, als Briten und Franzosen den Völkerbund gegen uns in Bewegung brachten und es ihnen gelang, die Sowjetunion zu isolieren und aus dem Völkerbund auszuschließen, als sie später sogar mobilmachten und von einem Kreuzzug gegen Russland sprachen.“ (11)

(Korrespondenz Kassel)


Quellen:

(1) P. P. Sewostjanow: Sowjetdiplomatie gegen faschistische Bedrohung, Staatverlag der DDR, Berlin 1984, S. 75/76

(2) V. Tanner: „Der Winterkrieg: Finnland gegen Russland, 1939–1940“, Stanford, USA, 1957, S. 27

(3) P. P. Sewostjanow: ebenda S. 77

(4) V. Tanner: ebenda, S. 76

(5) „Die Entwicklung der finnisch-sowjetischen Beziehungen im Jahre 1939“, Helsinki 1940, S. 70, zitiert nach Bland „Der sowjetisch-finnische Krieg“

(6) ebenda, S. 71

(7) W. M. Molotow: Rede vor der Sechsten Sitzung des Obersten Sowjets der UdSSR, in: „Sowjetische Friedenspolitik“, ebenda, S. 52f, zitiert nach Bland

(8) „Keesings Archive der Zeitgeschichte“, Band 5, S. 6.360, zitiert nach Bland

(9) ebenda S. 6.844

(10) G. B. Shaw, in: „Daily Mail“, 2. Dezember 1939, S. 6

(11) W. S. Churchill: Der zweite Weltkrieg, Sonderausgabe zum 50. Jahrestag des Kriegsendes, Bertelsmann-Verlag, S. 1.021