Wenn sogar nicht gezeugte Kinder zu „Mordopfern“ Mao Zedongs werden
Aus Anlass des 120. Geburtstags Mao Zedongs nahmen die bürgerlichen Massenmedien noch mal richtig Anlauf, den großen Revolutionär in Grund und Boden zu verdammen. Neben der Kulturrevolution ist es vor allem der „Große Sprung nach vorn“, der immer und immer wieder von den Antikommunisten als Ausgangspunkt eines womöglich sogar beabsichtigten Massensterbens in Schwindel erregenden Größenordnungen genannt wird.
In der „Süddeutschen Zeitung“ heißt es zum Beispiel am 27. Dezember 2013 unter dem Stichwort „Maoismus“, dass der „Große Sprung“ „in Wahrheit die größte Hungersnot der Weltgeschichte“ gewesen sei. Weiter heißt es in dem angeblich so seriösen Blatt: „Mindestens 40 Millionen Chinesen starben. Ausgelöst wurde die Katastrophe durch Maos Wunsch, in der Stahlproduktion England einzuholen. Bauern schmolzen ihre Pflüge und Eggen ein.“
Worum ging es beim „Großen Sprung nach vorn“ und wie kommen die Horrorgeschichten zustande?
„Großer Sprung nach vorne“ war der von Mao Zedong geprägte Name einer von 1958 bis 1961 laufenden Kampagne zum Aufbau des Sozialismus in China. Mit unterschiedlichsten Initiativen sollten mit einem qualitativen Sprung die „drei großen Unterschiede“ zwischen Stadt und Land, Industrie und Landwirtschaft, sowie Kopf- und Handarbeit angegangen werden. Erst 1949 war das Riesenreich, das über Jahrhunderte von Feudalismus und imperialistischen Mächten ausgeplündert worden war, im revolutionären Kampf befreit worden. Große Fortschritte für die Lage der bitterarmen Massen waren seither bereits erkämpft worden: das Land der Großgrundbesitzer war an die armen Bauern und Pächter verteilt worden, die 80 Prozent der Bevölkerung ausmachten. Eine eigenständige Industrie musste überhaupt erst einmal aufgebaut werden. Dabei half die damals noch sozialistische Sowjetunion, während der Westen ein rigoroses Embargo über das revolutionäre China verhängte und es mit neuen Kriegen bedrohte.
Der nach dem sowjetischen Vorbild organisierte erste Fünfjahresplan (1953–1957) hatte zu einem 15-prozentigen Wachstum der Industrie geführt. Es waren damit aber auch neue Probleme verbunden. Die starke Zentralisierung und Schwerpunktsetzung auf die Schwerindustrie entsprachen nicht den Bedingungen des extrem rückständigen Riesenlandes. Die Arbeiterklasse war noch klein, Fachkräfte und das nötige Know-how fehlten1 ebenso wie eine funktionierende Infrastruktur, Ausrüstungen mussten für teure Devisen beschafft werden. Eine unkontrollierte Landflucht armer Bauern in die wachsenden Städte setzte ein. Auch wurde die Bürokratie im zentralen Wirtschafts- und Parteiapparat extrem ausgebaut, die zudem selbst stark von einer alten, bürgerlichen oder gar feudalen Denkweise beeinflusst war.
Dem sollte der „Große Sprung“ entgegenwirken. Die Industrie sollte in kleineren Einheiten – und beispielsweise bei der Stahlproduktion mit stärkerer Betonung traditioneller, einfacher sowie dezentraler Methoden – aufgebaut werden. Dazu gingen Arbeiter aufs Land, um den Bauern zu helfen, landwirtschaftliche Geräte, Dünger oder Zement für den Straßen- und Häuserbau zu produzieren. Nach dem Motto „auf die eigene Kraft vertrauen“ wurde die Kollektivierung der Landwirtschaft vorangetrieben, weil nur so mehr Agrarprodukte als für den Selbsterhalt produziert werden konnten, um auch die städtische Bevölkerung zu versorgen. Nur größere Genossenschaften waren auch in der Lage, Bewässerungsanlagen oder Dämme zum Schutz vor Dürren und Überschwemmungen zu bauen, die seit Jahrhunderten immer wieder zu furchtbaren Katastrophen geführt hatten.
Genau zu solchen Naturkatastrophen kam es auch in der Zeit des Großen Sprungs und damit auch zu Hunger in einigen Regionen. Das hat die Führung der KP Chinas niemals verheimlicht. Auch andere Probleme wurden von Mao Zedong und Tschou Enlai bei verschiedenen Parteikonferenzen aufgedeckt und angegriffen. So gab es übereifrige Parteikader, die die Schaffung landwirtschaftlicher Genossenschaften und Kommunen mit Druck statt mit Überzeugung vorantrieben. Andere waren nur darauf aus, Erfolgszahlen bei der Planerfüllung vorzuweisen. Es wurden höhere Getreideerträge gemeldet, als real erreicht. Hier und da soll es tatsächlich auch dazu gekommen sein, dass landwirtschaftliches Gerät in den einfachen Hochöfen eingeschmolzen wurden, um angeblich mehr Stahl erzeugt zu haben. Das entsprach keineswegs der Grundlinie des „Großen Sprungs“, sondern war in vielen Fällen das Ergebnis der Tätigkeit kleinbürgerlicher Bürokraten. Das waren ernste Probleme, aber doch Randerscheinungen, die korrigiert werden konnten – und vielfach auch korrigiert wurden.
Dass viele Initiativen des großen Sprungs teilweise erst Jahre später zum Erfolg führten und teilweise Hunger um sich greifen konnte, hatte neben den Naturgewalten ganz andere Ursachen.
1956, drei Jahre nach Stalins Tod, hatte sich die sowjetische Führung unter Chruschtschow beim 20. Parteitag als neue bürokratische Bourgeoisie an die Macht geputscht. Mao Zedong hat diesen Verrat am Sozialismus prinzipiell kritisiert und auch innerhalb der KP Chinas gegen Kräfte gekämpft, die als „Machthaber auf dem kapitalistischen Weg“ die Richtung der sowjetischen Revisionisten einschlugen. Die Führung in Moskau reagierte mit Erpressung. Die Hilfe für China wurde eingestellt. 1960 wurden schlagartig die letzten 15.000 sowjetischen Experten, die beim Aufbau der Industrie geholfen hatten, aus China abgezogen.
Um sich nicht abhängig und damit politisch erpressbar zu machen, hatte Mao Zedong darauf gedrängt, die durch die vorangegangenen Lieferungen von Industrieausrüstungen entstandenen Schulden bei der Sowjetunion beschleunigt zurückzuzahlen. Aber die einzige Möglichkeit für das arme Agrarland China an Devisen heranzukommen, waren Nahrungsmittelexporte. Das war nach der Revolution auch in bescheidenem Umfang möglich gewesen. Mit den durch Dürren und Überschwemmungen 1958 entstandenen Missernten war das nicht mehr möglich.
Als das Ausmaß der Nahrungsmittelengpässe entgegen der Falschmeldungen aus einigen Provinzen offenkundig wurde, bemühte sich die chinesische Führung um den Kauf von Weizen und Reis aus dem Ausland. Die USA mit Präsident Kennedy an der Spitze lehnte jede Hilfslieferung rigoros ab. Die Sowjetunion wollte nur gegen die unmittelbare Zahlung von Devisen liefern. Australien und Kanada lieferten schließlich Lebensmittel – aber deutlich weniger als nötig.
Lange Zeit war unbestritten, dass es Hunger und Hungertote in diesen Jahren in China gegeben hatte. In China war von den „drei schwierigen Jahren“ die Rede.
Ins Millionenfache übersteigert wurden die angeblichen Opferzahlen erst 20 Jahre später. Nach dem Tod Mao Zedongs 1976 betrieb Deng Xiaoping die Restauration des Kapitalismus und damit auch die Auflösung der Volkskommunen. Mit der Reprivatisierung der Landwirtschaft und der Aufsplitterung in kleine Parzellen setzte daraufhin eine Landflucht wie in anderen abhängigen Ländern ein – vor allem in Form des Millionenheers der ausgeplünderten Wanderarbeiter. Von Deng Xiaoping stammt die Zahl von 16,5 Millionen Toten, die der „Große Sprung nach vorn“ und die damit verbundene Kollektivierung der Landwirtschaft gekostet haben sollte.
Nun wurde die Hetze auf Mao Zedong als „Massenmörder“ auch von den westlichen Massenmedien bis ins Absurde betrieben und mit jeder antikommunistischen Veröffentlichung stiegen die Opferzahlen. Einen (vorläufigen?) Gipfel erreichte die millionenfach vertriebene Mao-Biografie von Jung Chang und Jon Halliday, die 2005 auf englisch und 2007 auf Deutsch erschien. Darin wird behauptet, dass 70 Millionen Menschen von Mao ermordet worden sein sollen, davon alleine 38 Millionen im „Großen Sprung nach vorn“. Mittlerweile wird selbst dieser glühendste Antikommunismus übertroffen – jetzt sind es schon „mindestens“ 40 Millionen (siehe oben).
Von ernsthaften Sinologen wurden diese Angaben immer kritisiert – bis in die bürgerlichen Massenmedien schafften es ihre Einwände kaum jemals.
Der britische Wissenschaftler Josef Ball hat sich in einem ausführlichen Artikel die Mühe gemacht, die einzelnen Zahlenangaben zu überprüfen1. Sorgfältig zerpflückt er alle Argumente – und stößt darauf, dass einer der Antikommunisten vom anderen abschrieb, keine Quelle (wenn überhaupt angegeben) einer Überprüfung standhielt. Geradezu absurde Ergebnisse erzielt die demografische Argumentation und verheddert sich dabei in Widersprüche.
Josef Ball schreibt dazu: „Jedoch muss selbst die Demographin Judith Banister, eine der prominentesten Vertreterinnen der Hypothese der ‚gewaltigen Todeszahl‘, die Erfolge der Mao-Ära anerkennen. Sie schreibt, wie 1973 bis 1975 die Lebenserwartung in China höher war als in Afrika, im Nahen Osten, Südasien und vielen Ländern in Lateinamerika. 1981 war sie Mitautorin eines Artikels, in dem sie die Volksrepublik China als ‚Überflieger‘ bezüglich Sterblichkeits-Reduzierung beschrieb, mit steigender Lebenserwartung von durchschnittlich 1,5 Jahren pro Kalenderjahr seit Beginn der kommunistischen Herrschaft in 1949.“
Wie in solche Berechnungen 40 oder gar 70 Millionen Tote passen sollen, bleibt ein Rätsel. Aber die „Gelehrten“ gehen noch weiter. So nahmen sie eine normale Geburtenrate von 3 Prozent für 1960 und 1961 an, um die Bevölkerungszahl für 1961 zu schätzen. Die tatsächlichen Geburtenraten waren jedoch in beiden Jahren unter 3,0 Prozent: 1960 waren es 2,086 Prozent und 1961 1,892 Prozent. Die Differenz sind nach diesen „Gelehrten“ weitere Millionen „unschuldige Opfer“ Mao Zedongs.
Josef Ball weist nüchtern darauf hin, dass in allen Notzeiten die Geburtenraten zurückgehen. Als Beispiel nennt er die sinkenden Geburtenraten bei den schlimmen Hungersnöten in den Niederlanden 1944/45 und in Bangladesch 1974/75, wo die Geburtenraten um 50 Prozent sanken. In solchen Notzeiten – die es zweifellos in den Jahren 1959 bis 1961 in China gab, stellen die Menschen ihre Kinderwünsche zurück.
Wer außer blindwütigen Antikommunisten und reaktionärsten Teilen der katholischen Kirche käme auf die Idee, all die Kinder als „ermordet“ zu bezeichnen, die wegen Schwangerschaftsverhütung bzw. -unterbrechung nicht gezeugt oder geboren wurden?
Als die „drei schwierigen Jahre“ überwunden waren, konnten auch viele Initiativen aus dem „Großen Sprung“ wieder wirksam werden. Pao Yu Ching, eine ausgewiesene China-Expertin, berichtet in einem Artikel zur Industrialisierung und Beschäftigung auf dem Land: „Mitte der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts begann die Agrarproduktion jedoch schnell zu steigen, als viele der geschlossenen Werkstätten und kleinen Fabriken wieder geöffnet wurden und anfingen, erfolgreich zu sein. Ursprünglich gab es fünf Typen der ländlichen Kleinindustrie: Dünger, Zement, kleinindustrielle Eisen- und Stahlproduktion, Agrar-Maschinen und Kraftwerke.“2
Abgebrochen wurde diese Entwicklung erst mit der Machtübernahme der neuen Bourgeoisie unter Deng Xiaoping – die den modernen Antikommunisten bis heute das ersehnte Futter für ihre Hetze liefern.
Quellen:
1 Joseph Ball, Did Mao really Kill Millions in the Great Leap Forward? (Hat Mao wirklich Millionen im Großen Sprung nach vorn umgebracht?), Monthly Review, Sept. 21, 2006, http://monthlyreview.org/commentary/did-mao-really-kill-millions-in-the-great-leap-forward)
2 Pao-Yu Ching, Revolution and Counterrevolution. China’s Continuing Class Struggle since Liberation (Die Weiterführung des Klassenkampfs in China nach der Revolution). Institute of Political Economy, Manila 2012