„Unternehmen können sich auf Kosten der Beitragszahler und Beschäftigten gesundstoßen“

Interview mit dem Gelsenkirchener Rechtsanwalt Frank Stierlin

In der Weltwirtschafts- und Finanzkrise nehmen Insolvenzen erheblich zu. Neuerdings werden die Belegschaften, wie z. B. beim Callcenter Walter Services, mit der Variante des sogenannten „Schutzschirmverfahrens“ überrascht. Was beinhaltet das?

Es handelt sich dabei um den § 270b der Insolvenzordnung, der am 1. März 2012 in Kraft getreten ist, und zwar als Teil des „Gesetzes zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen“ (ESUG). Vorbild ist Chapter 11 des US-Rechts, nach dem z. B. 2009 die Insolvenz von General Motors abgewickelt und der Konzern in kürzester Zeit „saniert“ wurde. Der wesentliche Inhalt des Schutzschirmverfahrens besteht in der Kombination der „Insolvenz in Eigenverwaltung“ – die es bisher schon gab – mit einem dreimonatigen Gläubigerschutz.

Was heißt das nun konkret?

Grob gesagt, ordnet das Insolvenzgericht auf Antrag der Unternehmensleitung an, dass die Firma drei Monate lang von allen Verbindlichkeiten einschließlich Löhnen und Gehältern freigestellt wird und in dieser Zeit einen „Sanierungsplan“ erstellen soll. Voraussetzung sind „drohende Zahlungsunfähigkeit“ oder „Überschuldung“ und eine gewisse Erfolgsaussicht für die Sanierung, wozu aber eine Bescheinigung des Steuerberaters ausreicht. Der Unternehmer behält die volle Leitungsbefugnis: Es gibt also keinen Insolvenzverwalter, sondern nur einen „Sachwalter“, den sich die Firma auch noch selbst aussuchen kann. Für die Löhne kommt in den drei Monaten die Agentur für Arbeit durch das sogenannte Insolvenzgeld auf bzw. dieses wird durch eine Bank vorfinanziert.

Es liegt auf der Hand, dass ein solcher „Schutzschirm“ für ein Unternehmen eine glänzende Möglichkeit darstellt, sich auf Kosten der Beitragszahler, der Beschäftigten und wirtschaftlich schwacher Gläubiger gesundzustoßen. So werben z.B. Anwaltskanzleien und Unternehmensberater für dieses Verfahren im Internet: „Dem Unternehmen mit dem Liquiditätseffekt des Insolvenzgeldes Wettbewerbsvorteile verschaffen – lassen Sie das Unternehmen drei Monate ohne Lohnkosten produzieren!“

Geworben wird dafür aber auch mit der Begründung, dadurch könne das Unternehmen Kündigungsschutzvorschriften umgehen und Entlassungen leichter durchführen. Was hat es damit auf sich?

Das Sonderarbeitsrecht mit der Einschränkung des Kündigungsschutzes, der Verkürzung der Kündigungsfristen auf maximal drei Monate, der Möglichkeit der vorzeitigen Kündigung von Betriebsvereinbarungen usw. – all das wurde bereits mit der Insolvenzordnung 1999 eingeführt. Da der Unternehmer aber quasi sein eigener Insolvenzverwalter ist, hat er dessen Sonderrechte nun auch selbst.

Es heißt, die Gewerkschaften würden durch ihre Mitarbeit in Ausschüssen in die Sanierung eingebunden. Ist das neu und welche Erfahrungen gibt es dabei?

Neu ist nur, dass dem Gläubigerausschuss jetzt obligatorisch ein „Vertreter der Arbeitnehmer“ angehören soll. Das halte ich aber gar nicht für so wesentlich. Das eigentlich Problematische ist, dass die Gewerkschaften und viele Betriebsräte oft äußerst willfährig dem Abbau von Arbeitsplätzen zustimmen und durch sogenannte „Sanierungstarifverträge“ Lohnverzicht, Arbeitszeitverlängerung usw. vereinbaren mit dem Argument, „den Betrieb zu retten“. Kein aktiver Gewerkschafter darf es hinnehmen oder gar gutheißen, wenn mit solchen Erpressermethoden die Ausbeutung verschärft wird. Durch Verzicht wurde noch kein einziger Arbeitsplatz erhalten – im Gegenteil!

Vielen Dank für das Interview!