Ägypten: Zweiter Volksaufstand stürzt Präsident Mursi

Das Volk in Ägypten feiert das Ende des reaktionären Mursi-Regimes. Nach nur einem Jahr war seine Regierung verschlissen:

Wachsende Armut und Arbeitslosigkeit, wirtschaftliche Zerrüttung aufgrund der anhaltenden Weltwirtschafts- und Finanzkrise, staatliche Unterdrückung und Islamisierung von Staat und Gesellschaft – all das brachte Millionen auf die Straße.

Die zweite Welle des Kampfes für Demokratie und Freiheit in Ägypten hat eine neue Qualität. Dazu gehört die größte Demonstration in der Geschichte Ägyptens mit 37 Millionen – bei geschätzt 85 Millionen Einwohnern. Im Unterschied noch zum Kampf gegen Mubarak finden Protest- und Kampfaktionen in ganz Ägypten – nicht nur in den Zentren, sondern auch in den Dörfern statt. Die Arbeiterklasse tritt als Hauptkraft mit Streiks und Massenkämpfen in Erscheinung.

Die Genossen der Revolutionären Kommunistischen Partei Ägypten (CPRE) berichten: „Wichtiger Teil ist die Arbeiterklasse in der privaten Industrie und in den öffentlichen Einrichtungen, es finden täglich 30 bis 40 Protestaktionen (in den letzten sechs Monaten in den Betrieben) statt. Die CPRE ist intensiv tätig in den verschiedenen Bewegungen, wobei sie sich auf die Arbeiterklasse konzentrieren.“

Aus Mahalla wird berichtet, dass in der Misr Spinning & Weaving-Fabrik 90 Prozent der 25.000 Arbeiterinnen und Arbeiter in den Streik getreten sind. Es ist eine der größten Fabriken des Landes – die Stimmung ist elektrisiert.

Nicht das Militär, wie es bürgerliche Zeitungen hier darstellen, sondern der Kampf der Arbeiterklasse und breiten Volksmassen hat den Sturz des Präsidenten nach nur einem Jahr erreicht. Jugendliche sind die praktische Avantgarde der Bewegung und auch die Frauen spielen wieder eine bedeutende Rolle. Der Kampf gegen die Mursi-Regierung ist eng mit politischen und sozialen Fragen verbunden. Die Massen fordern demokratische Rechte und Freiheiten, Rechte der Frauen, höhere Löhne und Maßnahmen gegen Arbeitslosigkeit und Preistreiberei.

„Forderungen“, so schreibt die CPRE, „die sich nicht auf eine
kapitalistische Wahlurne einschränken lassen.“

Wechselwirkung über Kontinente
Die Kämpfe in Ägypten reihen sich ein in die aktuellen demokratischen Massenerhebungen und Volksaufstände wie in Brasilien, der Türkei und anderen Ländern. Bereits 2011 analysierte die MLPD einen „Prozess der länderübergreifenden revolutionären Gärung im Mittelmeerraum“ durch eine Wechselwirkung zwischen den Kämpfen in Griechenland, Spanien, Portugal und den Kämpfen in 40 nordafrikanischen und arabischen Ländern. Auf ihrem IX. Parteitag Ende 2012 musste sie aber „nüchtern bilanzieren, dass die Aufstandsbewegung in eine Sackgasse geraten ist und sogar zum Spielball imperialistischer Machtinteressen wurde“.

Nur ein halbes Jahr später  deutet vieles darauf hin, dass sich erneut eine revolutionäre Gärung entwickelt. „Eine revolutionäre Gärung ist eine Phase des Aufschwungs von ökonomischen und politischen Massenkämpfen, der Beginn einer massenhaften Herausbildung des sozialistischen Bewusstseins.“ (1)

Politische Krisen brechen weltweit zunehmend offen auf. Das Potenzial einer revolutionären Weltkrise baut sich weiter auf. Diese zukunftsweisende Entwicklung unterstützt die MLPD mit ihrer taktischen Offensive für den echten Sozialismus und gegen den modernen Antikommunismus. Praktische internationale Solidarität mit dem Befreiungskampf und Förderung des internationalistischen Klassenbewusstseins ist fester Bestandteil ihres Bundestagswahlkampfes.

Ein Schlag für die Imperialisten
Ägypten ist nach Südafrika das am stärksten industrialisierte Land Afrikas. Es hat als neokolonial ausgebeutetes und unterdrücktes Land im Zuge der Neuorganisation der internationalen Produktion eine immer stärkere kapitalistische Ausprägung und eine regionale Vormachtstellung entwickelt. Zugleich ist damit eine immer stärkere Arbeiterklasse entstanden. Es ist das bevölkerungsreichste und wirtschaftlich stärkste Land in Nordafrika mit einer strategischen Lage im Nahen Osten und am Suez Kanal. Deshalb ist es für die US- und EU-Imperialisten besonders wichtig. Um ihre imperialistischen Interessen weiterhin durchzusetzen, hatten sie sich gerade mit der Muslim-Bruderschaft arrangiert. In Berlin wurde Mohammed Mursi ehrenvoll empfangen und Außenminister Guido Westerwelle (FDP) bescheinigte ihm einen „konstruktiven, entschlossenen demokratischen Eindruck“. Aber das imperialistische Krisenmanagement durch das allein herrschende internationale Finanzkapital ist in Ägypten gescheitert. Sein Ende durch die Volkserhebung war zugleich ein Schlag gegen die Imperialisten. Die Einrichtung einer pro-imperialistischen islamistischen Regierung ist in Ägypten gescheitert. Ein Vertreter der CPRE berichtet in einem Telefoninterview: „Mursi wurde durch das Militär abgesetzt, weil sie Angst hatten, dass er unmittelbar durch die Massen gestürzt wird und eine für die Herrschenden nicht mehr kontrollierbare Entwicklung eintritt, die Auswirkungen auf die Lage im gesamten Mittleren Osten hat. Die Imperialisten wissen, dass es vor allem demokratische, fortschrittliche und revolutionäre Kräfte sind, die großen Einfluss in der Entwicklung der Massenproteste hatten.“

Der Kampf der ägyptischen Volksmassen muss weitergeführt werden. Nicht nur gegen Angriffe von Islamisten, die die Absetzung von Mursi rückgängig machen wollen. Auch das Militär ist kein zuverlässiger Partner. Zwar hat sich die Militärführung  aufgrund der Massenbewegung gegen das Mursi-Regime gestellt, ihn abgesetzt und unter Hausarrest gestellt. Letztlich zielt ihr Eingreifen aber darauf, eine revolutionäre Höherentwicklung der Massenbewegung zu verhindern. Mit einer Übergangsregierung, der Diskussion einer neuen Verfassung und Parlamentswahlen soll vor allem das System der kleinbürgerlichen Denkweise, insbesondere in Form von kleinbürgerlich-parlamentarischen Illusionen von Neuem aktiviert werden. Damit will das international allein herrschende Finanzkapital eine pro-imperialistische Regierung installieren. Der Versuch, dafür den von der USA und EU favorisierten Mohammed El-Baradei einzusetzen, ist zunächst gescheitert. Der ehemalige Chef der UN-Atomenergiebehörde IAEA ist Top Mann des internationalen Finanzkapitals und war der Bevölkerung nicht zu vermitteln. Dafür wurde er jetzt Vize-Präsident, verantwortlich für Außenpolitik.
Die Massen haben in nur einem Jahr einen schnellen Lernprozess vollzogen. Jetzt warnen die „Bild“-Zeitung und auch andere bürgerliche Medien vor Gewalt, Chaos und Bürgerkrieg in Ägypten. Diese Stimmungsmache will dem berechtigten Kampf der Volksmassen die Schuld für die Gewalt in die Schuhe schieben. Natürlich hat sich eine komplizierte Situation entwickelt. Angriffe faschistoider Kräfte müssen entschieden bekämpft werden, genauso wie die Vergewaltigungen von Frauen.

Illusionen in das Militär
Die Massen müssen auch lernen, mit Illusionen in die „fortschrittliche Rolle“ des Militärs fertig zu werden. Sie sind in Ägypten besonders stark, weil die Republik Ägypten 1953 durch einen Militärputsch entstand. Das Militär versucht, sich nicht offen islamistisch instrumentalisieren zu lassen, sondern erweckt den Anschein, für die „soziale, demokratische und kulturelle Identität Ägyptens“ einzutreten. Das ändert jedoch nichts an seinem reaktionären Charakter. Das Militär ist auch eine Wirtschaftskraft mit zahlreichen Betrieben, die geschätzt bis zu 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachen. Außer Mursi kamen alle bisherigen Präsidenten (Nagib, Nasser, Sadat, Mubarak) aus den Reihen des Militärs, viele Schlüsselstellungen im Staat, wie z. B. Gouverneure, sind vom Militär besetzt. Die Offiziere sind von der US-Armee ausgebildet und es hängt mit 1,3 Milliarden US-Dollar jährlich am Tropf der USA. Von Seiten der USA wurde auf die aktuelle Entwicklung umfassend Einfluss genommen. Außenminister John Kerry und seine Botschafter kontaktierten am Wochenende wiederholt sowohl die ägyptische Militärführung, die Führung der Muslim-Brüder und ihren Gewährsmann El-Baradei. Inzwischen wurde der oberste Verfassungsrichter Adli Mansur als Übergangspräsident eingesetzt. Er ernannte Hazem al-Beblawi zum Ministerpräsident. Dieser international erfahrene Banker war unter anderem fünf Jahre Exekutivsekretär der UN-Wirtschaftskommission für Westasien – ein Mann des internationalen Finanzkapitals.

Aber die Imperialisten haben ein entscheidendes Problem. Dazu schreiben die ägyptischen Genossen: „Das Volk ist wachsam geworden; es will tatsächliche Veränderungen … Auch die neue Übergangsregierung ändert nichts daran, dass Ägypten ein kapitalistisches Land ist und unter imperialistischer Herrschaft steht. Eine tatsächlich andere Gesellschaft kann nur durch eine sozialistische Revolution erreicht werden.“   

(1) Stefan Engel, „Der Kampf um die Denkweise in der Arbeiterbewegung“,  S. 148