Dmitrij Schostakowitsch und die Entwicklung einer sozialistischen Musikkultur
Dmitrij Schostakowitsch (1906–1975) war der wohl bedeutendste Komponist der sozialistischen Sowjetunion. Er stand zu seinen Lebzeiten und bis heute im Brennpunkt der Auseinandersetzung über die Rolle der Musik und eines Musikers im Sozialismus. Von bürgerlichen Musikhistorikern erhielt er entweder den Stempel des Dissidenten, der angeblich von Stalin „verfolgt“ wurde, oder das Etikett „linientreu“ – gleichbedeutend mit der Unterstellung, sich kritiklos staatlichen Vorgaben für eine „sozialistische Musik“ unterworfen zu haben. Beides ist gleichermaßen antikommunistisch verzerrend und verunglimpft die grandiose Leistung von Schostakowitsch. Es reißt die damalige Auseinandersetzung auch aus dem historischen Zusammenhang.
Die 1920er Jahre wurden in der Sowjetunion zu Jahren stürmischen Aufbruchs in Malerei, Musik, Literatur, Filmkunst … Der Zarismus hatte der breiten Masse der Arbeiter und Bauern jede kulturelle Förderung vorenthalten. Das änderte sich mit dem Aufbau des
Sozialismus: „Gleichzeitig mit großartigen Fortschritten im Kampf gegen den Analphabetismus wurden bereits in der jungen Sowjetunion die Tore der Theater, Bibliotheken und Sportstätten für die Massen weit geöffnet.“ („Morgenröte der internationalen sozialistischen Revolution“, S. 93) Kunst und Kultur bekamen eine neue Rolle, sie wurden unter der Leitlinie „dem Volke dienen“ „zu Instrumenten der Befreiung, zu Triebkräften der Hebung des Kulturniveaus und der Überwindung der Klassenunterschiede – für die Kulturschaffenden ebenso wie für die Massen“ (ebenda, S. 94).
Die große Aufbruchstimmung sowie verbreitete und geforderte Experimentierfreude für den sozialistischen Aufbau ging jedoch auch mit Tendenzen einher, sich über die Massen hinwegzusetzen. Das kennzeichnete zum Teil auch die Stilrichtung der „Avantgarde“. Gleichzeitig gab es unter den bäuerlich geprägten Massen noch viele rückständige Gewohnheiten, religiöse Vorurteile und ein teilweise niedriges Kulturniveau. So notwendig es war, gerade auch mit künstlerischen Mitteln das Kulturniveau zu heben, durfte sich die sozialistische Kultur doch nicht von den Massen entfernen. Deshalb war es völlig richtig, die Kritik an solchen Erscheinungen zu entwickeln, um eine Massenkultur des Sozialismus zu schaffen.
Schostakowitsch – ein revolutionärer Künstler
Schostakowitschs revolutionäre Gesinnung wurde schon in der Familie mit geprägt. Sein Großvater war aktiver polnischer Revolutionär. Seit frühester Jugend bis kurz vor seinem Tod schuf er große Werke, die sozialistischen Themen gewidmet sind, z. B. zum 1. Mai, zum Jahr 1905, zu Lenin, dem Stalin’schen Aufforstungsprogramm und vieles Ähnliche mehr. Er schrieb, was weitgehend unbekannt ist, in großer Zahl populäre Musiken für Theater, Ballett und Kino, allein von 1929 bis 1931 schuf er 13 Werke dieser Art („rororo Monographie“ von Detlev Gojowy, Reinbek 1983, S. 52). Er setzte sich aktiv und erfolgreich auch gegenüber Stalin direkt für zu Unrecht verfolgte Musikerkollegen ein. Als er zögerte, als Mitglied der sowjetischen Delegation 1949 zum Panamerikanischen Kongress für Kultur und Friedenssicherung zu reisen, rief ihn umgekehrt Stalin persönlich an und überzeugte ihn mit den Worten, „kein anderer“ könne „die sowjetische Musik besser repräsentieren als eben er“ (Krysztof Meyer, „Schostakowitsch“, Bergisch Gladbach 1995, S. 342). Er war immer als Genosse behandelt worden und trat 1961 in die KPdSU ein. Seine Werke gehören zum unvergänglichen Erbe der proletarischen Kultur.
Das Ringen um eine neue Musik in der Sowjetunion
Andrej Shdanow, Mitglied des Zentralkomitees der KPdSU, entwickelte als ein Leitprinzip für die sozialistische Musik: „Ihre Aufgabe besteht darin, die Überlegenheit der sowjetischen Musik zu beweisen, eine machtvolle sowjetische Musik zu schaffen, die das Beste aus der Musik der Vergangenheit in sich schließt und die Gegenwart der sowjetischen Gesellschaft widerspiegelt, eine Musik, die imstande ist, die Kultur unseres Volkes und seine sozialistische Bewusstheit noch höherzuheben.“ (Shdanow, „Über Kunst und Wissenschaft“, Berlin 1951, S. 78).
Kritisiert wurden wiederholt eine Überbetonung der Form gegenüber dem Inhalt („Formalismus“), Abgehobenheit von den Massen durch ihnen unverständliche musikalische Mittel („Zwölftonmusik“) ohne Durchdringung mit proletarischem Inhalt, Strukturlosigkeit („Chaos statt Musik“), sklavisches Nachahmen ausländischer bürgerlicher Musik, Sarkasmus, Skeptizismus und rückwärtsgerichtete Dekadenz.
Jeder sowjetische Musiker musste sich damit auseinandersetzen und war auch davon beeinflusst – Schostakowitsch ist keine Ausnahme. Er wurde zweimal öffentlich kritisiert – einmal in den 1930er Jahren wegen seiner 4. Sinfonie und der Oper „Lady Macbeth von Mzensk“. Diese Kritik war im Wesentlichen berechtigt. Bei ihm wirkten verschiedene bürgerliche und kleinbürgerliche Einflüsse. So drückt er in der 4. Sinfonie deutlich seine Sympathie für den dekadenten Komponisten Gustav Mahler aus. Schostakowitsch war Schüler des bürgerlichen Spätromantikers Alexander Glasunow, kam aus einem kleinbürgerlichen Elternhaus und sagte selbst, er habe einen Hang zur Melancholie.
Schostakowitsch war offen für diese Kritiken und reagierte positiv mit Werken, die diese berücksichtigten. So verstand er die 5. Sinfonie als „schöpferische Antwort auf berechtigte Kritik“ ( Bertelsmann-Konzertführer, Gütersloh 1993, S. 456). Seine 5. Sinfonie erreichte große Popularität auf allen Kontinenten. Eine solche Kritik und Selbstkritik war klar, prägnant, fördernd und öffentlich – der gemeinsamen Sache verpflichtet. Die bürgerliche Ideologie stempelt das als „Scherbengericht“ ab und mutmaßt, dass Schostakowitsch sicher an Selbstmord gedacht habe (Bertelsmann-Konzertführer).
Dabei gibt es natürlich auch eine Musikkritik im kapitalistischen Musikbetrieb, die durchaus nicht frei ist. Sie ist Teil des Systems der kleinbürgerlichen Denkweise als Herrschaftsmethode – bewertet wird oft nach subjektiver Sympathie oder Antipathie und Maßstab ist Brauchbarkeit für die bürgerliche oder kleinbürgerliche Denkweise. Überschreiten aber Künstler die Grenze zu Ansätzen offener Systemkritik wie etwa die Schriftsteller Heinrich Böll oder Alfred Andersch, dann werden Hetzkampagnen losgetreten bis zur Unterstellung, sie wären „Terroristen“.
Die 7. Sinfonie …
Sie ist Schostakowitschs bekanntestes Werk, was sowohl in der Sowjetunion wie weltweit mit großer Begeisterung aufgenommen wurde. Sie entstand 1941 in der Zeit der beginnenden Einschließung Leningrads durch die Faschisten. Schostakowitsch kämpfte darum, in die Armee aufgenommen zu werden, und wehrte sich anfangs entschieden dagegen – zu seinem Schutz auf Beschluss des Zentralkomitees – Leningrad, seine Heimatstadt, zu verlassen.
Er schrieb über seine Absichten mit dieser Sinfonie: „Ich wollte ein Werk über unsere Menschen schreiben, die in ihrem im Namen des Sieges geführten Kampfes zu Helden werden … dachte ich an die Größe unseres Volkes, an seine Heldenhaftigkeit, an die wunderbaren humanistischen Ideen… Meine 7. Sinfonie widme ich unserem Kampf gegen den Faschismus, unserem sicheren Sieg über den Feind und meiner Hauptstadt Leningrad.“ (Krysztof Meyer, a.a.O, S. 277). Die Aufführungen in der Sowjetunion wurden zu einem Triumphzug. Desgleichen weltweit – z. B. in den USA, wo ihn Kritiker in eine Reihe mit Beethoven stellten. Der Parteiführung war die Aufführung im belagerten Leningrad selbst sehr wichtig. So wurden Musiker von der Front abgezogen und unter großer Gefahr nach Leningrad geflogen. Ausgerechnet am Tag der Aufführung starteten die Faschisten heftige Bombenangriffe. Trotzdem kamen die Menschen zum Konzert. Die sowjetische Flugabwehr schwieg, um die Musik nicht zu stören. Die Aufführung verlief „stürmisch und leidenschaftlich – großartig und feierlich“ – so ein Zeugenbericht (Veronika Nees, „Das Rätsel der Leningrader Sinfonie von Schostakowitsch“, World Socialist Website, 25. 8. 12, S. 1)
… und der Kampf gegen Dogmatismus und Schematismus in der Kulturbürokratie
Schostakowitsch kritisierte auch berechtigt dogmatische und verflachende Züge in der Musikkritik der Sowjetunion: „Die Dogmatiker stellen oft an den Komponisten naive und schematische Anforderungen einer arithmetischen Ausgeglichenheit des ,Negativen‘ und ,Positiven‘ in jedem einzelnen Werk. Auf eine geistige Bereicherung unseres Musikschaffens heißt auch auf kühnes Neuerertum Kurs nehmen. Wir haben noch viel von den Klassikern zu lernen. … Wir vergessen, dass die Kunst unserer Klassiker stets eine unruhige und suchende war.“ (rororo Monographie, S. 80) Dies zeigten die „sektiererische Tendenzen, Kunst und Kultur zu instrumentalisieren, sie lediglich die Lehren der Partei popularisieren zu lassen …“ (Morgenröte S. 92). Das Zentralkomitee der KPdSU beschrieb in fast allen Beschlüssen zu Fragen der Kunst und Kultur ähnliche Erscheinungen der Entartung bzw. bürgerlichen Einflusses in den Staatsorganen und der sozialistischen Presse, beließ es aber vielfach bei Mahnungen und Beschlüssen, das zu ändern. Es gab eine metaphysische Tendenz der Schwarz-Weiß-Malerei, der vereinfachenden, vulgarisierenden Kulturkritik.
Der Kampf um eine sozialistische Musikkultur ist also im Sozialismus tiefgehend und kompliziert. Literatur und Kunst müssen sich schöpferisch in die proletarische Politik einordnen, üben ihrerseits aber einen großen Einfluss auf diese aus. Schon die Vorbereitung der internationalen sozialistischen Revolution braucht eine nationale – und internationale – proletarische Kultur, Mut zum Experiment, zur Vielfalt und zu freimütiger, schöpferischer Kritik.