Die „Rattenlinie“ – vom Untertauchen und Wiederauftauchen der Naziverbrecher
Dresden (Arbeiterkorrespondenz): Das Buch „Die Rattenlinie – Fluchtwege der Nazis“ von Rena und Thomas Giefer erschien 1991. Es ist ein Beitrag zur Aufarbeitung der deutschen Geschichte und brandaktuell im Hinblick auf den Aufbau und die Geschichte des heutigen Auslandsgeheimdienstes (BND) und der besonderen Rolle des Antikommunismus!
„Rattenlinie“! Unter diesem amerikanischen Geheimdienstbegriff wurden Fluchtrouten, auf denen man Agenten aus dem feindlichen Hinterland herausschleuste und in „Sicherheit bringt“, geführt. Zum Ende des deutschen Faschismus gab es ein ganzes, weltweites Netzwerk solcher „Rattenlinien“, über die sich Nazis und Kriegsverbrecher ihrer Strafe entziehen konnten. Dazu heißt es im Vorwort der Dokumentation: „Erst seit Beginn der achtziger Jahre erhalten die Recherchen über das Verschwinden so vieler NS-Täter eine neue Richtung. Amerikanische Geheimdienst-Archive der Nachkriegszeit sind jetzt zum Teil für Wissenschaftler und Journalisten zugänglich … Diese Arbeit ist längst nicht abgeschlossen, aber eines ist sicher: Die dramatische Wende in der Außenpolitik der Alliierten vom antifaschistischen Bündnis zum kalten Krieg … hat vielen Nazis das Leben gerettet und die Freiheit geschenkt. Selbst mißtrauische Chronisten der Nachkriegszeit, die das ,schon immer wußten‘,sind überrascht von den Dimensionen dieses zweifelhaften politischen Geschäfts: Die Zahl derer, die sich mit Hilfe der westlichen Alliierten aus dem besetzten Deutschland retten konnten, während dieselben Alliierten das demonstrative Programm der Kriegsverbrecherprozesse und der ,Entnazifizierung‘ ablaufen ließen, geht offenbar in die Zehn-, ja in die Hunderttausende!“ ( Hervorhebung Artikelautor)
In ihrem Buch verarbeiten die Autoren nicht nur Materialien die in den 1980er Jahren zugänglich wurden. Sie stützten sich für die Verfilmung und das Buch auf Interviews mit Zeitzeugen aus verschiedenen Geheimdiensten (CIA …) die Christopher Simpson für sie durchgeführt hat. (Buchautor: „BLOWBACK – der amerikanische Bumerang“) Sie belegen, wie das deutsche Kapital und die Hitlerfaschisten bereits seit 1944 Milliarden vor allem nach Südamerika schafften. Ganze Fabriksysteme dort, sowie in der Schweiz, Spanien, Portugal, Türkei usw. aufgebaut wurden, um ihre Macht nach dem sich abzeichnenden verlorenen Krieg abzusichern. Sie dokumentieren konkret und anschaulich das Netzwerk der „Rattenlinien“ der Faschisten selbst und ihrer Helferorganisationen im Vatikan, der Geheimdienste usw. Sie behandeln die „Vatikan-Route“, die Rolle der Caritas und vom Roten Kreuz, insbesondere die Rolle der US-Geheimdienste, bei der Herausschleusung Zehntausender führender Faschisten, deren teilweise Reaktivierung und Nutzung für ihre aggressive Politik und Kriegsführung gegenüber der damals sozialistischen Sowjetunion und zur Infiltrierung und Destabiliserung. Dies wird anschaulich und exemplarisch an international berüchtigten faschistischen Massenmördern wie J. Schwammberger, Skorzeny (SS-Chef der späteren ODESSA), Eichmann, Barbie (Gestapo-Chef Lyon), Kaltenbrunner und andere getan. Ein großes Kapitel (40 Seiten) ist Hitlers Chefplaner für den Überfall auf die damalige sozialistische Sowjetunion, dem faschistischen General und Chef der Auslandsspionage „Fremde Heere Ost“, General Gehlen, gewidmet. Hierzu kommen besonders frühere Geheimdienstler der USA und Englands zu Wort.
Der Aufbau des Auslandsgeheimdienstes (Organisation Gehlen, später BND), des Inlandsgeheimdienstes (Verfassungsschutz) sowie der CIA, basierten auf der eindeutigen Grundlage des Antikommunismus und der Vorbereitungen auf einen Krieg gegen die Sowjetunion. Zur Durchführung von militärischen Operationen wurden Tausende faschistischer SS- und SD-Verbrecher „reaktiviert“. An ihrer Spitze stand der von der Sowjetunion meistgesuchteste Verbrecher General Reinhard Gehlen: Nachfolgend verschiedene Textpassagen aus dem Buch:
Der ehemalige CIA-Agenten Arthur Macy Cox: (S. 168): „… Gehlen hatte enormen Einfluss im Krieg. Er war einer der Hauptplaner der Operation Barbarossa … und mitverantwortlich für den Tod von Millionen sowjetischer Bürger. Er wurde nicht vor den Nürnberger Prozess gebracht, was meiner Meinung nach bemerkenswert ist.“
S. 171: „… die 50 Stahlkoffer mit den Dokumenten der Abteilung ,Fremde Heere Ost‘ wurden aus ihren Verstecken gebuddelt. Aus den verschiedensten Internierungslagern wurden Gehlens Mitarbeiter zusammengesucht und zusammen mit ihrem Chef und den Dokumenten von Wiesbaden in die USA geflogen. Hier in der Nähe von Washington, in einem Vernehmungslager … entstand der Plan, einen neuen antisowjetischen Spionagedienst aufzubauen. Alles streng geheim, schließlich stand Gehlen immer noch auf der Kriegsverbrecherliste der vier Siegermächte … Das Votum von Allan Dulles (Anm.: dem späteren US-Außenminister), der schon während des Krieges als Vertreter des amerikanischen Geheimdienstes in Bern … Kontakte geschmiedet hatte, gab den Ausschlag. So unglaublich es klingt – Gehlen setzte sich sogar mit seiner ungeheuerlichen Forderung durch, die ganze Abteilung ,Fremde Heere Ost‘ als deutsche Organisation unter seinem Kommando wieder aufzubauen, lediglich unter anderem Namen und im Sold der USA.“
Im Juni 1946 wurde ein entsprechender Geheimvertrag unterzeichnet und die damit gegründete „Organisation Gehlen“ trat die Reise nach Europa an. Die Dokumentation beschreibt und belegt, mit welchen Möglichkeiten und Freiheiten ausgestattet der Faschist Gehlen mittels der Rückholungen tausender Altfaschisten zum Aufbau der „Organisation-Gehlen“ gemeinsam mit der CIA die Vorläuferorganisation des späteren Auslandsgeheimdienstets BND organisierten.
Im Interview (S. 194) mit Victor Marchetti (CIA-Geheimagent, später Executive Assitent des damaligen Stellvertreneden Directors der CIA, Admiral Rufus Taylor), führte dieser aus: „… Und bald brauchte man wieder ihre Qualifkation … im Zoll, in der Staatspolizei. Sie waren bei der Kripo, bis es schließlich auch wieder den Verfassungsschutz und einen deutschen Nachrichtendienst gab.“
Frage: „Welche Qualifikation mußte denn jemand haben, der in einer solchen streng ideologisch ausgerichteten Organisation Karriere gemacht hatte?“
Antwort V. Marchetti: „… für uns war in diesem Fall die einzige und entscheidende Bedingung der Antikommunismus. Das stand über allem anderen.“
Gehlen selbst war bis 1968 Chef des BND.