„Baumeister der Revolution“
Eine Ausstellung mit Führung im Gropius-Bau
Berlin (Korrespondenz): Bis zum 9. 7. 12 ist im Berliner Martin-Gropius-Bau eine Ausstellung über Werke der sowjetischen Avantgarde-Architektur zu sehen, die zwischen 1915 und 1935 entstanden sind. Gezeigt werden Skizzen, Pläne und Fotos von Kraftwerken, Fabriken, Wohnhäusern und Gemeinschaftswohnanlagen, Arbeiterclubs, Sanatorien, Studentenwohnheimen, Schulen, Pressegebäuden und Parkhäusern. Zudem wird der sogenannte Tatlinturm (Denkmal für die III. Internationale) als Modell präsentiert, eine kühne spiralförmige Konstruktion des Architekten Tatlin. In den Aufträgen, die die sowjetischen Architekten von den neuen Bauherren (das waren die Volkskommissariate, Gewerkschaften, Kommunen usw.) erhielten, steckten so große Herausforderungen, dass sie darauf mit einem Ausbruch geradezu revolutionärer Kreativität reagierten. Dabei holten sie sich Inspiration von russischen Avantgardisten und setzten deren Kunstsprache um in die dritte Dimension. Die bekannteren unter ihnen waren Tatlin, Melnikow und die Gebrüder Vesnin. Aber auch aus dem kapitalistischen Ausland kamen berühmte Architekten, angezogen von den großartigen Perspektiven, die sich ihnen in Sowjetrussland boten, und stellten ihr Können dem sozialistischen Aufbau zur Verfügung. Zu nennen sind hier Gropius, Le Corbusier und Mendelsohn.
Kreativität für die Massen
Die funktionalen und ästhetischen Lösungen für die gestellten Aufgaben sind teilweise verblüffend einfach, aber absolut überzeugend. Beispiel: die Großbäckerei von Georgi Marsakow von 1931, ein kühner Rundbau mit vielen Fenstern. Die vier Arbeitsschritte des Brotbackens: Mischen des Teigs, Aufgehen und Reifen des Teigs, Backen der Brote und Verpacken – wurden auf vier lichtdurchfluteten Etagen des Produktionsgebäudes verteilt. Die Restwärme des Ofens nutzte man für das Reifen des Teigs im obersten Stockwerk. Brotfabriken und Großküchen befreiten die Frauen von zeitraubenden häuslichen Aufgaben und ermöglichten, Neubauwohnungen mit Öfen ohne Backvorrichtung zu konzipieren. Ob man Wohnungen ohne Küchen bauen sollte, weil es ja Gemeinschaftsküchen gab, war sehr umstritten.
Ähnlich überzeugend auch die von den beiden Architekten Ginsburg und Milinis entworfene Gemeinschaftswohnanlage „Narkomfin“ für Beschäftigte des Volkskommissariats für Finanzen, die aus vier Blöcken bestand: einem Wohnblock, einem Gemeinschaftsblock mit Sporthalle, einem Speisesaal und einem Block mit Waschküche. Ein fünfter Block für Kinder wurde nie gebaut. Die Wohnungen verteilten sich über zwei Ebenen, hatten Fenster zu beiden Seiten und waren gut zu durchlüften. Es gab in der Anlage Wohnungen für Menschen, die noch ein traditionelles Familienleben führen wollten, für das eine große Küche eine wichtige Rolle spielte. Und Wohnungen für Menschen, die zu gemeinschaftlichen Wohnformen und Essen in der Kantine übergegangen waren. Von den Vorteilen dieser Wohnformen sollte man sich durch die praktischen Vorteile im Alltag überzeugen können.
In einer Gruppe des ABZ Berlin, die die Ausstellung im Mai besucht hat, tauchte die Frage auf, ob es gut war, Wohnanlagen ausschließlich für die Beschäftigten eines Ministeriums, einer Gewerkschaft oder gar nur einer gesellschaftlichen Schicht, z. B. für die leitende Gruppe des KGB zu bauen. Die meisten hielten eine Mischung von arbeitenden Menschen verschiedener Berufsgruppen und Funktionen für besser.
Die Provokation der Ausstellung
Den Ausstellungsbesucher im Gropius-Bau erwartet visuell ein Paradox und inhaltlich eine Provokation. Das Paradox: Auf der einen Seite zahlreiche kleinformatige Originalfotografien, Architekturpläne und Zeichnungen und Skizzen der ausgewählten Neubauten der zwanziger und dreißiger Jahre vor allem in Moskau und St. Petersburg.
Auf der anderen Seite dann großformatige Aufnahmen derselben Objekte im heutigen Verfallszustand, aufgenommen von dem erstklassigen britischen Architekturfotografen Richard Pare in den letzten Jahren. So wird der Verfall zum Haupteindruck für den Besucher. Die sich aufdrängende Frage nach den Verantwortlichen für den dokumentierten skandalösen Umgang mit dem kulturellen Erbe des Sozialismus wird nicht explizit gestellt, aber doch eindeutig beantwortet. Schuld war angeblich Stalin mit seinem verknöcherten dogmatischen Kunstverständnis und seinen avantgardefeindlichen ästhetischen Idealen. Seine Entscheidungen, wollen einem die Ausstellungsmacher sagen, leiteten den Verfall der kulturellen Errungenschaften ein. Das ist die Provokation der Ausstellung.
Die Bilder der Verfallserscheinungen rund 60 Jahre nach Stalins Tod diesem in die Schuhe zu schieben, ist unverschämt. Den ganzen Zeitraum der Restauration des Kapitalismus ab 1956, und damit die Wiedereinführung des Profitsystems, klammert die Ausstellung aus.
Arbeiterpaläste statt Visionen?
Auf einer Tafel liest man, dass die Architektur der 1930er Jahre mit ihrem „realistischen Vokabular (gemeint ist der sozialistische Realismus) fügsam geworden sei, indem sie sich von der Abstraktion abgewandt und zum Realistischen hingewandt hätte. Die fügsame Architektur konnte dem Proletariat nun nicht länger durch die Formensprache der Moderne die Vision einer revolutionären neuen, sozialen Welt geben, stattdessen nur noch Paläste für die neuen Herrscher im Staat, die Arbeiter. Nach gut fünfzehn Jahren praktischen sozialistischen Aufbaus wurden von den Künstlern keine solchen ,Visionen‘ mehr erwartet wie in den ersten Jahren nach 1917.“
Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, die in der Sowjetunion in Riesensprüngen vorangekommen war, hatte „grandiose Perspektiven“, etwa von der klassenlosen Gesellschaft, in Verbindung mit der „härtesten, nüchternsten und praktischen Arbeit mit dem höchsten Heroismus“ (Shdanow auf dem Kongress der sowjetischen Schriftsteller, 1934) auf die Agenda gesetzt. Gebraucht wurden zudem sorgfältige Forschungen zum Leben und Lebensgefühl der Menschen in den neuen Städten und Gebäuden, die Wirkungen der Ästhetik eingeschlossen. Darüber hinaus ist es Unsinn zu behaupten, dass nur noch Arbeiterpaläste gebaut wurden, man denke nur an das schöne Ordshonikidse-Sanatorium in Kislowodsk, das von 1934 bis 1937 entstanden ist. Für die Ausstellungsmacher scheint die Vorstellung offenbar schrecklich zu sein, dass im Sozialismus die Arbeiter in Palästen wohnen. Wer sollte ihrer Meinung nach dann darin wohnen?
Ein Angebot des ABZ:
Trotz antikommunistischer Botschaft lohnt ein Besuch der Ausstellung, weil selten so viele einzigartige visuelle Dokumente des revolutionären Bauens zu sehen sind. Man muss sich jedoch aktiv mit dem modernen Antikommunismus auseinandersetzen, der einem hier mal in subtiler, mal in plumper Weise entgegentritt.
Das Arbeiterbildungszentrum bietet am Samstag, den 30.6.12, 10.30 Uhr eine zweistündige Führung durch die Ausstellung. Eintritt im Gropiusbau: 10 Euro, für Rentner 7 Euro.
Die Führungsgebühr beträgt 5 Euro.
Treffpunkt: Vor dem Gropius-Bau, Berlin-Kreuzberg