Der „Freigeist“ in Stalins Sowjetunion

aus Rote Fahne 10/2007

RoteFahne10_07.jpgAls im Oktober 2005 das Gymnasium in Obersulm den Namen Paul Distelbarths erhielt, schrieb die „Heilbronner Stimme“: „Der Zeitpunkt für diese späte Ehrung könnte kaum besser gewählt sein, um an politische Werte und Visionen des Zeitungsgründers zu erinnern.“ Allerdings blieb das Verhältnis des Blattes zu seinem ehemaligen Verleger und Mitherausgeber nicht ganz ungebrochen, denn ein zentraler Punkt wurde nachträglich in Frage gestellt.

So hieß es da: „Der Leitartikler stritt gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik, fürchtete die Spaltung Deutschlands im Kalten Krieg, warb für ein neutrales Europa zwischen USA und UdSSR. Bis zuletzt blieb Distelbarth ein politischer Freigeist. Und er war neugierig auf andere Länder, andere Kulturen. Als einer der ersten westdeutschen Journalisten reiste er in den 50er Jahren durch Russland und durch das China Mao Tsetungs. Danach war er davon überzeugt, dass vom Kommunismus beider Länder keine Aggressionsgefahr ausgehe. Die Geschichte hat manches korrigiert …“ („Paul Distelbarth – Publizist der Völkerverständigung“, „Heilbronner Stimme“, 29. 10. 2005)

Distelbarths Freigeistigkeit bestand gerade darin, dass er dem damals herrschenden Antikommunismus widerstand. Das ist auch aktuell eine entscheidende Frage, um zu richtigen politischen Schlussfolgerungen zu kommen, und wurde keineswegs durch die Geschichte korrigiert! Weil Distelbarth sich als bürgerlicher Schriftsteller und christlich eingestellter Mensch frei machte von den Fesseln des Antikommunismus, verdanken wir ihm einige hervorragende Dokumente über die Errungenschaften und Leistungen des Sozialismus.

Zu Lebzeiten machte er sich bei den Herrschenden damit nicht beliebt – so schrieb er in dem über seine Chinareise verfassten Buch: „Im Frühjahr 1953 hatte ich an einer Reise in die Sowjetunion teilgenommen, die bis nach Stalingrad und Swerdlowsk im Ural führte, und darüber in einem bei Rowohlt erschienenen Buch ‚Russland heute‘ Bericht erstattet. Das Buch wurde von der bürgerlichen Presse Westdeutschlands sehr ungnädig beurteilt, fand aber bei der Leserschaft durchweg eine freundliche Aufnahme.“ (Paul Distelbarth – „Blüte der Mitte“, S. 7)

Als Friedensfreund für die Sowjetunion

Im März 1952 hatte Stalin den Westmächten in einer diplomatischen Note die sowjetische Zustimmung zur deutschen Wiedervereinigung angeboten – Voraussetzung dafür sollte die Erklärung der deutschen Neutralität sein. Doch die CDU-Regierung unter Kanzler Konrad Adenauer betrieb eine einseitige, antikommunistische und kriegstreiberische Bindung an die USA und lehnte Stalins Vorschlag ab. Dieser Widerspruch zu den elementaren Interessen des deutschen Volkes war der Antrieb für Distelbarths Reise in die Sowjetunion: „Zwar ist das deutsche Volk in seiner überwältigenden Mehrheit immer noch gegen den Krieg, aber seine Meinung spielt in der deutschen Politik nur eine rein dekorative Rolle – man beruft sich auf sie, wenn es gut in den Rahmen passt – die Führer unserer Politik jedoch rechnen längst wieder mit der Möglichkeit eines neuen (wie sie hoffen siegreichen) Krieges. Hat man nicht die Notwendigkeit einer deutschen Aufrüstung ganz offiziell damit begründet, die verlorenen Ostgebiete zurückzugewinnen?“ („Russland heute“, S. 7)

Als Teilnehmer des I. Weltkriegs und zeitweiliger Kreiskommandant eines besetzten Gebietes in Russland hatte Distelbarth das Land kennen gelernt und zog nun einen konkreten Vergleich zwischen dem rückständigen Russland des Zaren und der Arbeiterherrschaft in der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken. Manches mag heute antiquiert erscheinen – immerhin ist der Bericht über 50 Jahre alt. So war es acht Jahre nach der Hitlerbarbarei und ihrem Rassenwahn durchaus angebracht, der faschistischen Hetze vom „slawischen Untermenschen“ auch Betrachtungen über die germanischen Vorfahren der Russen gegenüberzustellen – das wirkt heute sicherlich etwas seltsam.

Doch im Kern zeigt sich etwas grundsätzlich Modernes und Lebendiges: Das Wesen, die Anschauungen, die Kultur und die Moral des sozialistischen Menschen! Doppelt interessant wird dies durch den Vergleich mit späteren Reiseberichten, die nach der Restauration des Kapitalismus in der Sowjetunion durch Chruschtschow 1956 verfasst wurden: In dem Buch „Sozialismus am Ende?“ von Willi Dickhut wird beispielsweise aus der Reportage „Verwandte in Moskau“ zitiert, die der „Stern“-Reporter Henry Kolarz 1963 veröffentlichte. Dort erscheint das Bild eines vom materiellen Anreiz bestimmten Denkens und einer an westlichem Konsum und westlicher Mode orientierten und oberflächlichen Jugend, die von den Chruschtschow-Leuten in dieser Richtung bestärkt wurde.

Im heutigen Russland verbreiten die Medien Geldgier, Starrummel, Sexismus und Frauenfeindlichkeit. Ganz anders die Erlebnisse, die Distelbarth schildert: „Das ganze russische Leben wird von einer großen und echten Höflichkeit und freundlichen Nachsicht beherrscht; daran hat sich unter dem Bolschewismus nichts geändert. Nie sieht man unfreundliche Gesichter, hört barsche Worte, auch nicht von ‚Amtspersonen‘ …

Die Atmosphäre von Höflichkeit und freundlicher Fürsorge, mit der wir während der ganzen Reise umgeben wurden, war echt und nicht gespielt, das fühlte man sofort. Auch die Gastfreundschaft, die wir erfuhren, und die bis ins Kleinste ging, war von einer Großzügigkeit, die in westlichen Ländern nicht üblich ist …

Dafür gibt es jetzt Autodroschken in nicht geringer Zahl; sie sind alle vom Typ ‚Pobjeda‘, natürlich staatlich; der Chauffeur bezieht Gehalt und weist Trinkgeld zurück. Mit Trinkgeld-geben-wollen muß man sehr vorsichtig sein, am besten, man versucht es überhaupt nicht. Allenfalls kann man beim Bezahlen auf die Herausgabe des Kleingeldes verzichten, dabei wird niemand etwas finden …

Was bei den Kellnern, wie überhaupt in Moskau, auffiel war die Abwesenheit jeder Form von Unterwürfigkeit, bei größter Höflichkeit …Man stellt sich ja den Bolschewisten bei uns als einen finsteren, heimtückischen Gesellen vor, womöglich schielend, immer mit dem ‚Dolch im Gewande‘. Die Bolschewisten, mit denen wir in Berührung kamen, waren von alledem das gerade Gegenteil. Damit will ich natürlich nicht den Bolschewismus und seine Methoden verteidigen …

Ich will hier gleich bemerken, daß man sich gegen weibliche Personen niemals auch nur die geringste Vertraulichkeit erlauben darf; das würde sehr übel vermerkt werden. Das weibliche Geschlecht wird hoch in Ehren gehalten; es ist auch in gewissem Sinne ‚unnahbar‘, so daß man gar nicht in Versuchung kommt …Man sieht nirgends erotische Bilder, nirgends aufreizende Kinoreklamen, keine derartigen Buchumschläge. Man sieht auch keine aufgetakelten Mädchen, die auf Männerfang ausgehen, keine Gangstertypen, auch keine flegelhaften jungen Leute. Dagegen sieht man, wie in Frankreich, viele Pärchen …“

Es sind diese Alltagsbeobachtungen, die Distelbarths Buch so interessant machen. Natürlich bietet es darüber hinaus auch eine Fülle erstaunlicher Informationen über die Errungenschaften des Sozialismus. Zur damaligen Zeit und auch heute, zu Zeiten von Hartz IV, eine interessante Einzelheit: „Ich will nicht nachrechnen, was eine Mahlzeit, wie wir sie dreimal täglich vorgesetzt erhielten, bei uns in einem erstklassigen Hotel kosten würde. Natürlich war es mir klar, daß nicht alle Russen so essen – wer könnte sich das erlauben? Aber doch muß ich sagen, daß der russische Industriearbeiter besser ißt als der deutsche, wovon ich mich überzeugen konnte.“

Über die Lage der Arbeiter, die Ausbildung der Jugend, die Kultur und Bildung der Massen zählt Distelbarth zahlreiche konkrete Fakten auf. Und angesichts des aktuellen Kampfes gegen die Rente mit 67 ist auch dies von allergrößtem Interesse: „Jeder hat von einem bestimmten Lebensalter an Anspruch auf eine Rente, die 50 % seines letzten Durchschnittseinkommens ausmacht, er muß jedoch mindestens 25 Jahre gearbeitet haben. Die Altergrenze beträgt für Bergwerke und Schwerindustrie 50 Jahre, für die Leichtindustrie 60 Jahre, für bestimmte Berufszweige 55 Jahre, für Frauen ebenfalls 55 Jahre, doch brauchen diese nur zwanzigjährige Tätigkeit nachzuweisen …“ (dk)