Wen sollen die Euro-Rettungsschirme retten?
Wer alte Bücher kennt oder schon einmal nach Spanien gereist ist, der wird dem Mann sicher schon einmal begegnet sein: dem „Ritter von der traurigen Gestalt“, Don Quichotte, der auf seinem klapprigen Gaul mit seiner Lanze erfolglos gegen Windmühlenflügel anrennt.
Keineswegs so sympathisch, aber ansonsten nicht unähnlich erscheinen die Vertreter des internationalen Finanzkapitals, die bei zahlreichen, hektischen Treffen mit immer neuen und gigantischeren „Rettungsschirmen“ die akute Verschärfung der 2008 aufgebrochenen Weltwirtschafts- und Finanzkrise abbremsen wollen. Die Folgen wollen sie immer rabiater auf die breiten Massen, die jeweilige imperialistische Konkurrenz und die abhängigen Länder abwälzen. Aber mit jeder ihrer Maßnahmen stauen sich die wirtschaftlichen und politischen Widersprüche nur noch weiter auf.
Seit Ende Juli hält eine weltweite Börsenkrise an. In der vergangenen Woche sackte der Deutsche Aktienindex (DAX) erneut um 6,7 Prozent. Die Spekulanten an den Börsen reagieren damit auf neue Prognosen, die für die Gesamt-EU einen Rückgang beim Bruttoinlandsprodukt und für den „Hoffnungsträger der Weltwirtschaft“, China, erheblich sinkende Wachstumsraten vorhersehen.
Besonders betroffen von Börsenverlusten sind gegenwärtig Bankaktien. Und das umso mehr, je mehr Staatsanleihen aus den am stärksten vom Staatsbankrott bedrohten Ländern Griechenland, Portugal, Irland – und nicht weit davon entfernt auch Spanien und Italien – sie in ihren Tresoren liegen haben. So sind die Aktienkurse der französischen Großbanken BNP Paribas, Crédit Agricole und Société Générale innerhalb der letzten drei Monate um 45 bis 53 Prozent abgesackt. Die riskanten Staatsanleihen so schnell und mit möglichst geringen Abschlägen an die Europäische Zentralbank (EZB) abzustoßen, heißt nichts anderes, als diese eigentlich zur „Währungsstabilität“ gegründete Einrichtung zu einer Art „Bad-Bank“ zur Ablagerung fauler und hochriskanter Anleihen zu machen. Großbanken – wie die Deutsche Bank – ziehen auch auf diese Weise Kapital aus den Krisenländern ab, horten es bei der EZB und steigern damit das Problem der chronischen Überakkumulation des Kapitals. Damit erhöht sich die Gefahr einer „Ansteckung“ – eines Übergreifens der Krise zu einer internationalen Bankenkrise.
Kaum schien gesichert, dass der deutsche Bundestag nach heftigem Streit am Donnerstag (nach RF-Redaktionsschluss) die Regierung ermächtigen wird, den sogenannten Euro-Rettungsschirm (EFSF) aufzustocken, ruckten gerade die deutschen Bankaktien wieder ein Stück nach oben. Die Kreditgarantien des EFSF sollen dabei von 250 auf 440 Milliarden Euro erhöht werden, wovon Deutschland für 211 Milliarden (gegenüber bisher schon 123 Milliarden Euro) geradezustehen hätte. Und das bei einem Gesamtvolumen des Bundeshaushalts 2011 von 306 Milliarden Euro.
Wieder einmal gibt es angeblich „keine Alternative“, auch wenn die Ratingagentur Standard & Poor’s unkt, die deutsche Wirtschaft dürfe auch nicht überschätzt werden, und wenn sie für ganz Europa bürgen wolle, dann könne auch ihre Kreditwürdigkeit herabgesetzt werden.
Krise ist nicht überwunden
Die riesigen „Rettungsaktionen“ der internationalen Krisenmanager beim Zusammenbruch der US-Bank Lehmann Brothers im Herbst 2008, als die internationale Finanz- und Bankenkrise aufbrach, haben die Staatsverschuldung der meisten Länder in astronomische Höhen getrieben. Die Krise überwinden, die Weltwirtschaft stabilisieren oder gar einen Aufschwung einleiten konnten sie damit nicht.
Die Weltindustrieproduktion liegt auch jetzt noch ungefähr um fünf Prozent unter dem Höchststand von vor der Krise. Die immer noch größte Volkswirtschaft der Welt, die USA, stagniert auf niedrigem Niveau. Durch die hohe Arbeitslosigkeit und die ungelöste Immobilienkrise stockt die Konsumnachfrage. In Japan ist die Industrieproduktion im II. Quartal 2011 gegenüber dem Vorjahr erneut eingebrochen und im Vergleich zum Höchststand von 109,3 vor der Krise auf einen Indexwert von 89 zurückgegangen. In der EU war und ist die Entwicklung von einer starken Ungleichmäßigkeit zwischen verschiedenen Ländern geprägt. In Griechenland und Portugal vertieft sich die Krise massiv – nicht zuletzt aufgrund des Ausverkaufs der Reste der einheimischen Industrie und Infrastruktur, der Steigerung der Arbeitslosigkeit, der massiven Kürzungen durch die sogenannten „Sparprogramme“. In Italien und Spanien lag die Industrieproduktion im ersten Quartal 2011 noch etwa 20 Prozent unter dem Höchststand von vor der Krise, in Frankreich um etwa 10 Prozent. In Großbritannien lag der Index mit 89,8 sogar unter dem Tiefpunkt von 2009 (92,5). Eine Besonderheit ist die Entwicklung der BRD-Wirtschaft, die durch ihre starke Exportwirtschaft besonders von der Entwicklung in China, Indien und Brasilien profitieren konnte und eine deutliche Belebung erfuhr. China und Indien erreichten nämlich Wachstumsraten von 13 Prozent über dem Vorkrisenstand.
Aber besonders in China setzt zurzeit eine deutliche Dämpfung ein und es zeigt sich, dass der wirtschaftliche Aufschwung selber auf wackliger, spekulativer Grundlage steht. Die Investitionen in neue Fabriken, Immobilien und teilweise auch in die Infrastruktur (oft unter Federführung internationaler Übermonopole) wurden durch die größten Konjunkturprogramme der Welt angeschoben. Diese Geldschwemme hat die Inflation derart angeheizt, dass das sozialimperialistische Regime nun auf Dämpfung setzt, will es den Zorn der Massen nicht noch weiter schüren.
In der vergangenen Woche gingen auch die internationalen Rohstoffbörsen in die Knie, nachdem sie zuvor Höhenflüge erlebt hatten. Die Kurse für Edel- und Basismetalle brachen ein. Zinn um fast 9 Prozent, Kupfer und Blei um 8 Prozent, auch Silber und Gold rutschten ab. Als eine der Hauptursachen wird die Furcht vor Bankenkrisen genannt, weshalb die Rohstoffspekulanten eigenes Bargeld horten wollen. Vor allem aber werden die rückläufigen Bestellungen aus dem weltgrößten Rohstoffverbraucherland – eben China – genannt.
G20-Gipfel im Streit
Am Wochenende fand in Washington ein weiterer G20-Gipfel statt, der in tiefer Zerrissenheit auseinanderging. Anlass war die Jahrestagung von IWF und Weltbank und die Finanzminister und Notenbankchefs der 20 mächtigsten Länder der Welt waren angereist. Wenn auch offiziell eine andere Tagesordnung genannt wurde, so stand doch die Auseinandersetzung um die Euro-Krise im Zentrum. Wie schon zuvor der IWF bewertete auch das US-Finanzministerium diese als „größte Bedrohung der Weltwirtschaft“. Ausgerechnet die hoch verschuldeten US-Imperialisten fordern vehement besonders von der deutschen Regierung, neue Konjunkturprogramme aufzulegen und Griechenland keinesfalls fallen zu lassen, die Verschuldung also noch weiter zu steigern. Bei den Herrschenden in Europa aber wächst die Furcht vor den Folgen der wachsenden Verschuldung wie einer galoppierenden Inflation, vor allem aber vor der Rebellion der Massen. Das steht hinter der Verunsicherung und heftigen Widersprüchlichkeit auch in den Reihen der bürgerlichen Politiker und Wirtschafts„weisen“.
Das ist auch der Hintergrund für die heftigen Querelen in der Koalitionsregierung und für die Vertiefung der latenten politischen Krise, wie sie zuletzt die Wahlen in Berlin dokumentiert haben.
Die internationalen Krisenmanager sind in der Zwickmühle. Einerseits wollen sie die Übernahme der Risiken und Lasten auf die konkurrierenden imperialistischen Länder abwälzen – andererseits ist die Weltwirtschaft durch die Neuorganisation der internationalen Produktion äußerst labil und so tief miteinander verstrickt, dass jede Maßnahme an einem Ende der Welt oft unvorhergesehene Wechselwirkungen an anderer Stelle erzeugt. Die Entwicklung der Massenkämpfe im arabischen und Mittelmeerraum, zunehmend auch in anderen europäischen Ländern, aber auch in Chile zeigt ihnen, dass immer mehr Menschen das imperialistische Herrschaftssystem infrage stellen. In einem weltweiten Linkstrend drückt sich die Suche nach einer gesellschaftlichen Alternative aus. Die Entfaltung einer revolutionären Weltkrise – vor nichts haben sie mehr Angst.
Zugleich wird die Ungleichmäßigkeit der Entwicklung und die imperialistische Konkurrenz auf die Spitze getrieben – Kriege wie der in Libyen geben davon Zeugnis. „Die Weltwirtschafts- und Finanzkrisen zeigen die Tendenz globaler Zusammenbrüche der Finanzmärkte und der hochkomplizierten – und damit auch hochempfindlichen – Mechanismen der internationalen Produktion und Verteilung. Das hat ungeahnte Folgen für die herkömmliche Funktionsweise des kapitalistischen Produktions- und Reproduktionsprozesses; die Anarchie der kapitalistischen Produktion wird auf die Spitze getrieben.“ (Stefan Engel, „Morgenröte der internationalen sozialistischen Revolution“, S. 176)
Europa unter deutscher Vorherrschaft?
Selbstverständlich will auch Kanzlerin Angela Merkel im Auftrag der in Deutschland ansässigen Übermonopole die Aufstockung des Euro-Rettungsschirms und seine Auspolsterung durch private Darlehen keineswegs aus Mildtätigkeit gegenüber dem griechischen Volk. Sie will damit mehr Macht für den deutschen Imperialismus. Unter dem abgedroschenen Schlagwort des „einigen Europa“ soll mit oder ohne Frankreich eine „europäische Wirtschaftsregierung“ kommen. Ziel ist es, die Reste der nationalen Souveränität der kleineren EU-Länder weiter drastisch zu beschneiden bzw. auch ganz abzuschaffen. Im Zentrum steht dabei zurzeit Griechenland mit seiner rebellischen Bevölkerung. Der Unternehmensberater Roland Berger will Griechenland gleich die gesamte Eigenständigkeit abnehmen und eine „Treuhandgesellschaft“ nach dem Vorbild der „Abwicklung der DDR“ installieren.
Besonders am Kampfwillen des griechischen Volkes soll ein möglichst niederschmetterndes Exempel statuiert werden. Dafür übt eine „Troika“ aus IWF, EU-Kommission und Europäischer Zentralbank bei Rundreisen in Griechenland erpresserischen Druck aus nach dem Motto: „Was könnte denn noch an ,Tafelsilber‘ verkauft werden, werden die Leute schon genügend geschröpft, gibt es genug Entlassungen?“
Der griechische Regierungschef macht einen Bückling nach dem anderen vor den mächtigen Europäern und verspricht, seine „Hausaufgaben“ schleunigst zu erfüllen … Die „Bild“-Zeitung hetzt gegen die „Pleitegriechen“, schürt die Ängste und soll vor allem verhindern, dass eine kämpferische Solidarität der Arbeiterinnen und Arbeiter, der Jugend und breiter Bevölkerungsschichten in Europa sich mit den Massen in Griechenland entfaltet, die sich mit bewundernswerter Hartnäckigkeit dagegen auflehnen, die Lasten der Krise zu tragen, die andere zu verantworten haben.
Überholte Gesellschaftsordnung
Manche sehen in Don Quichotte auch eine Symbolfigur für den vergeblichen Kampf um den Erhalt einer abgewirtschafteten, dem Untergang geweihten Gesellschaftsordnung. Der „Ritter von der traurigen Gestalt“ war ein glühender Anhänger des mittelalterlichen Feudalismus mit seinen romantischen Rittergeschichten, der bei der Veröffentlichung des Buches Anfang des 17. Jahrhunderts bereits überholt war.
Natürlich ist das allein herrschende internationale Finanzkapital keine Witzfigur und sein Kampf für den Erhalt seiner überholten, imperialistischen Gesellschaftsordnung droht nicht nur ein paar Windmühlenflügel zu zerbrechen, sondern die ganze Menschheit samt ihren natürlichen Lebensgrundlagen in den Abgrund der Barbarei zu reißen.
Aber sich ihre Schwächen, ihre Zerstrittenheit und Unfähigkeit für die Bewältigung der grundlegenden Menschheitsprobleme vor Augen zu führen, kann ermutigen, den revolutionären Kampf für eine gesellschaftliche Alternative zu führen mit dem Ziel der vereinigten sozialistischen Staaten der Welt.